SZ-Serie "Landmarken":Sagenumwobener Leuchtturm

Seitdem zwei Etagen des Haarer Hochhauses nachts hin und wieder in Rot erstrahlen, reißen die Gerüchte um ein Bordell in luftiger Höhe nicht ab. Doch im urbanen Wahrzeichen der Gemeinde finden keine einsamen Herzen ihr Glück, sondern Patienten mit Rückenleiden und Knieproblemen Linderung.

Von Bernhard Lohr, Haar

So ein Haus regt die Fantasie an. Was wurde über den Büroturm nicht schon alles geredet. Am wildesten schossen die Gerüchte in Haar ins Kraut, als Doktor Wilfried Sauer damit begann, den 10. und 11. Stock zu illuminieren. Seitdem leuchten die Fenster dort blau, grün und rot. Und weil der Mensch gerne glaubt, was er glauben mag, hielt mancher das weithin sichtbare Rot für ein Locksignal, das sich an die Einsamen im Münchner Osten richten sollte.

Der Büroturm wurde so für manche zum Leuchtturm für gestrandete Matrosen, die auf dem Feld der Liebe Schiffbruch erlitten haben. Ein Bordell habe dort aufgemacht, unkte der eine und ulkte der andere - mitten im Ort, 50 Meter über Haar. Was für eine verrückte Idee.

Natürlich ist da nichts dran. Die Bilder vom bunt leuchtenden Turm sind in Haar und darüberhinaus allerdings der Hit geworden. So wie Fotografen den 75 Meter hohen Turm mit seinen 15 Stockwerken insgesamt als schmuckes Motiv ausgemacht haben. Haar gewann urbanes Flair hinzu. Zum Weltstädtischen freilich hat es nicht gereicht. Auch wenn mancher gerne einen Hundertwasserturm daneben gesetzt hätte. Selbst der etwas futuristisch nach oben sich weitende Wohnturm 150 Meter weiter ließ sich nicht umsetzen. "Wir sind Haar" riefen die Gegner, sammelten Unterschriften und wühlten die Bürgerschaft auf.

Beruhigender Ausblick für Wutbürger

Vielleicht hätte den einen oder anderen Wutbürger ein Blick von der 12. Etage über das schöne Haar beruhigen können. Markus Stock, Immobilienmanager der Dibag Industriebau, ist für die Vermietungen im Büroturm zuständig und schwärmt dort oben vom Blick in Richtung Ortskern. Der Turm von St. Konrad ist zu sehen, dahinter ein Wasserturm und noch ein Kirchturm, der zu Vaterstetten gehört. Sonst: viel, viel Grün. "Da hat man das Gefühl, die haben das in den Wald hineingebaut", sagt Stock über Haar. Selbst die B 304, die stark befahrene Wasserburger Straße, die direkt am Büroturm vorbeiführt und die Gemeinde zerschneidet, wirkt mit etwas Abstand majestätisch - wie eine schön angelegte Allee.

Die Möglichkeit, das alles vom Dach des Turms aus bei einem Kaffee und Stück Kuchen zu genießen, gibt es übrigens nicht und sollte es auch nie geben. Auch das Gerede vom Terrassencafé in 70 Metern Höhe, sagt Stock, habe keine Substanz gehabt. Leider nicht machbar.

Eine Terrasse freilich gibt es schon dort oben, und eine Art Penthouse, wo sich mit der FWW Fundservices GmbH ein zahlungskräftiger Finanzverwalter eingemietet hat. Dass es im Büroturm entgegen aller Erwartungen relativ viel Leerstand geben soll, ist im übrigen auch eine Nachricht, die in der Gemeinde an vielen Ecken aufzuschnappen ist. Doch auch das stimmt, zumindest mittlerweile, nach Aussage von Markus Stock nicht mehr. Eine noch freie Bürofläche im 12. Stock sei praktisch vermietet, sagt er. Und als wollte er demonstrieren, wie groß das Interesse am Turm ist, laufen ihm wie bestellt gleich zwei Mietinteressenten über den Weg.

"Das ist wie Dauerfernsehen"

Eine Frau schaut sich im 1. Stock ein 73 und ein 53 Quadratmeter großes Büro an. Sie macht Fotos und fragt nach Quadratmeterpreisen sowie Mietkonditionen, um dann zügig wieder abzudampfen. Sie werde mit ihrem Chef reden und sich melden, sagt sie, nachdem Immobilienmakler Stock sie darauf hingewiesen hatte, dass sie sich gut überlegen solle, ob sie die Fläche im 1. Stock nach vorne raus zur Straße nehmen wolle. Die fahrenden Autos, das ständige Hin und Her: Das müsse man wollen, sagt er. Die B 304 ist hier unten nicht majestätisch: "Das ist wie Dauerfernsehen."

Dauerhaft glücklich, ja geradezu beseelt wirkt vielleicht die prominenteste Figur, die im Büroturm residiert. Der Orthopäde Wilfried Sauer ist mit Verwalter Stock im Jagdfeldzentrum, also in der Ladenzeile am Fuß des Turms, verabredet. Er kommt runter aus seiner Praxis, um mit Stock darüber zu reden, wo geeignete Räume für ein Diagnostik-Zentrum mit Röntgen und anderen bildgebenden Geräten zu finden wären. Sauer plaudert fröhlich los. "Die Firma Dibag ist absolut zuverlässig", sagt er. Er habe schnell entschieden, die Räume im 11. Geschoss zu beziehen, und habe es nie bereut.

Und Sauer erzählt eine Anekdote von seinem ersten Auto, einem Citroën DS, der bei seiner Präsentation in den Fünfzigerjahren mit seinem extravaganten Chassis und seinem futuristischen Interieur Furore machte. Fahren kam Schweben gleich. Die Déesse, also Göttin, galt bald als Inbegriff französischer Lebensart.

Eine Praxis wie eine Göttin - das war sein Traum

Eine Praxis wie eine Déesse, sagt Sauer, das sei sein Traum gewesen. Und diesen Traum vom Göttlichen verwirklichte der Orthopäde dann im Turm. Darunter zog dann noch passenderweise ein orthopädisches Therapiezentrum ein. Doktor Sauer schätzt das Praktizieren über den Dächern von Haar. Vom futuristisch in Weiß gehaltenen Sprechzimmer, dessen Mobiliar auch in einen Science-Fiction-Film passen würde, geht der Blick Richtung Alpen. Die Silhouette von München, mit Dom, SZ-Hochhaus und Heizkraftwerk ist zu sehen. "Es ist ein Privileg, hier arbeiten zu dürfen", sagt Sauer. Den Patienten, die aus aller Welt zu ihm kommen, gönnt er den Blick natürlich auch.

Und all den Haarern, die mit Rückenleiden und Knieproblemen bei Sauer gesessen haben, könnten sich vielleicht irgendwann leichter tun, die urbane Seite ihrer Gemeinde zu akzeptieren. So wie mit der innovativen Turmbeleuchtung. Die hat sich Sauer von einer wahren Metropole abgeschaut. In Shanghai, sagt er, sei jedes Hochhaus auch ein Werbepylon. Irgendwie, sagt er, habe er auf seine Praxis aufmerksam machen wollen. Haar hat er damit ein Wahrzeichen verpasst.

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