SZ-Serie: 18/18, Folge 10:Als der Messwein gefror

Schon vor 100 Jahren gab es eine Landflucht. In der Schwaige setzen Siedler alles daran, ein Gotteshaus zu bekommen. Vom Salettl zur späteren Pfarrei St. Otto

Von Martin Mühlfenzl

Die Gläubigen kommen am Sonntag, den 1. Advent, auf gerade einmal fünf auf zehn Metern zusammen. Nicht viel Platz in diesem neuen Gotteshaus, das so gar kein Haus sein möchte. Es ist kalt in diesem Winter 1918, um nicht zu sagen saukalt. Da hilft es kaum, dicht gedrängt auf wackeligen Biergartenstühlen beieinander zu sitzen. Und dann verzögert sich das ganze Prozedere noch - das Weihwasser ist gefroren. Auch der Messwein hat seinen Aggregatzustand längst verändert. Also nichts wie rüber in die beheizte Schwaige zur Wirtin Maria Klas und das gesegnete Tröpfchen wieder aufwärmen, damit die Messe weitergehen kann.

Es sind viele Ausflügler, Sommer-, oder besser gesagt, Winterfrischler aus der Landeshauptstadt, die vor hundert Jahren im Salettl an der Schwaige im heutigen Ottobrunn zusammenfinden, das damals als Waldkolonie noch zu Unterhaching gehört. Erst im Jahr 1955 wird der Ortsteil unabhängig und in den Rang einer eigenen Gemeinde erhoben. Unter den Kirchgängern befinden sich aber auch einige, die sich in den vergangenen Jahren fest hier niedergelassen haben. Sie bauen neue Häuschen, Häuser, sogar Villen.

Schwaige Ottobrunn Serie 100 Jahre

Direkt an der Schwaige stand einst das Salettl – die erste Ottobrunner Kirche und Vorläufer von St. Otto.

(Foto: Privat)

Bereits einige Jahre vor der ersten Messe im Salettl am 1. Advent des Jahres 1918 setzt sich bei den neuen Bewohnern der Wunsch fest, in einem eigenen Gotteshaus an den Sonntagen den Gottesdienst feiern zu dürfen. Sie suchen zwar die Freiheit, die Ruhe und Gemächlichkeit fern der wachsenden, lauten Großstadt München; den tief verwurzelten Glauben aber legt keiner ab, nur weil er die Vorzüge eines Häuschens im Grünen für sich entdeckt.

Am 27. April des Jahres 1914 treffen sich einige der Siedler im Münchner Salvatorkeller. Sie alle haben ein gemeinsames Ziel vor Augen: In ihrer Waldkolonie soll eine Kirche errichtet werden; am besten ein gemauertes Gotteshaus. Sie gründen den "Kirchenbauverein Neubiberg W", den Namen Ottobrunn gibt es zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht - das W im Namen steht daher für "West". Sie starten eine erste Sammelaktion, bringen eigene Wertmarken heraus, die zum Preis von 5 Pfennig das Stück verkauft werden. Doch es ist schwer, in diesen harten Zeiten an Geld zu kommen. Dem Enthusiasmus der gläubigen Siedler aber tut dies keinen Abbruch; bereits 1916 zählt der Verein mehr als 180 Mitglieder. 120 von ihnen geben als Wohnsitz noch immer München an.

"Es waren sehr geduldige, mutige und entschlossene Menschen", sagt Therese Hörsgen. Die 83-jährige, ehemalige Grundschulrektorin ist so etwas wie das kirchengeschichtliche Gedächtnis der jungen Gemeinde. Sie hat sich tief eingegraben in die Historie der Pfarrei St. Otto, deren Wurzeln im Salettl an der Schwaige zu finden sind. Diesen mutigen Menschen ist es zu verdanken, dass auch auf Vermittlung von Gutsverwalter Eduard Klas, einem Vorfahren des heutigen Ottobrunner Feuerwehrkommandanten gleichen Namens, der Besitzer des Areals Reichsrat Wilhelm von Finck das Salettl als erste Notkirche zur Verfügung gestellt hat. "In mühsamer Kleinarbeit haben die Siedler dann das Nötigste für eine Kirche in den umliegenden Pfarreien zusammengebettelt", sagt Therese Hörsgen. "Das erste Altarbild, das der Hohenbrunner Künstler Anton Niedermaier gemalt hat, befindet sich immer noch in unserem Archiv von St. Otto." Die erste Messe 1918 hält Dekan Anton Haubenthaler von der Mutterpfarrei Oberhaching. Nur hat er wenig Zeit, um sich weiter um den kleinen Nachbarn zu kümmern. Eines Abends schlägt in der Schwaige, dem damals unumstrittenen Zentrum des wachsenden Ortes, der Münchner Geistliche und Religionslehrer Friedrich Müller auf und bietet seine Dienste an. Ein Zeitzeuge sagt über Müller, er sei absolut verlässlich gewesen, "zu Fuß oder mit dem Rad und wenn es Katzen hagelte".

SZ-Serie: 18/18, Folge 10: Jahrhundert-Themen im Münchner Umland. SZ-Serie.

Jahrhundert-Themen im Münchner Umland. SZ-Serie.

Die erste Notkirche, das Salettl, wird freilich bald zu klein. Zwei Fügungen des Schicksals bescheren der Waldkolonie ein größeres Gotteshaus: Die Eheleute Franz und Franziska Beiser schenken der Kirchengemeinde ein Grundstück; jenes Areal auf dem heute noch die Kirche St. Otto, das Pfarr- und Gemeindehaus und der Kindergarten stehen. Dekan Haubenthaler steuert das nötige Kapital dank einer Rodung im Pfarrwald Oberhaching bei, zwei ehemalige Militärbaracken werden in Schleißheim gekauft - aus einer wird die Schule, die andere zur Notkirche zwei. Die Siedler nennen sie bald Waldkirche. Kein Wunder, steht sie doch inmitten von Bäumen. Doch nach und nach verschwindet der Wald. Die Siedlung wächst rasch, am 6. September 1936 wird der Grundstein für die Kirche St. Otto gelegt, Kardinal Michael Faulhaber weiht den Sakralbau am 11. April 1937 ein. Vor den Pforten St. Ottos wehen die Fahnen der Nationalsozialisten.

Die dritte katholische Kirche in Ottobrunn - nach den zwei Notkirchen - überdauert die Zeit. Das Salettl aber reicht identitätsstiftend bis in die Gegenwart. Die jüngste, flächenmäßig kleinste Kommune des Landkreises - und die mit der zweithöchsten Bevölkerungsdichte der Republik - braucht diese Kontinuität, sagt Hörsgen. Auch wenn immer mehr Menschen den Bezug zum Glauben verlieren. "St. Otto ist der geistige und emotionale Mittelpunkt dieser Gemeinde. Wir dürfen uns gerne daran erinnern, wo wir herkommen - und wie wir so groß geworden sind", sagt die ehemalige Lehrerin.

SZ-Serie: 18/18, Folge 10: Die renovierte Kirche St. Otto in Ottobrunn.

Die renovierte Kirche St. Otto in Ottobrunn.

(Foto: Claus Schunk)

Wenn die Gläubigen am 1. Advent in St. Otto zusammenkommen, werden sie sich an die mutigen Siedler von einst erinnern. Es wird ihnen sicher ein wenig warm ums Herz. Und der Messwein bleibt flüssig.

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