Süddeutsche Zeitung

Bundestagswahl im Landkreis München:Wunschzettel an Berlin

In der Hauptstadt laufen die Sondierungsgespräche zwischen den Parteien, im Landkreis München hätten die Menschen schon ein paar Vorschläge, was die neue Bundesregierung anpacken soll: Gut bezahlte Arbeit, weniger Bürokratie und vor allem erschwingliche Wohnungen.

Von Bernhard Lohr

Die Erwartungen an eine künftige Bundesregierung sind hoch. SPD, Grüne und FDP sondieren die Aussicht auf eine Ampel-Koalition und reden nach der Wahl von Aufbruch, Fortschritt und gar einer Zeitenwende. Vieles soll angepackt werden, was die Politik bisher nicht geschafft hat. Max Wagmann von der Arbeiterwohlfahrt, Deniz Dadli, Jugendarbeiter aus Oberschleißheim, und Willie Stiehler von der Energieagentur verfolgen das mit großem Interesse; ebenso Vertreter von Unternehmen und Arbeitnehmern. Ihnen fällt einiges ein, was zu tun wäre: vom Klimaschutz über Bürgerrechte bis hin zum Bürokratieabbau.

Die Gewerkschafterin

Simone Burger, die Vorsitzende des Kreisverbands München im Deutschen Gewerkschaftsbund, hält es für grundlegend, Klimaschutz und "gute Arbeit" miteinander in Einklang zu bringen. Dringend geboten seien staatliche Investitionen in eine vernachlässigte Infrastruktur. Burger hofft darauf, dass die Frage, wer von der nach oben kaum Grenzen findenden Wertsteigerung von Grund und Boden profitiert, zum Wohl der Gesellschaft beantwortet wird. Sie setzt auf eine Reform des Bodenrechts und darauf, dass die Gemeinnützigkeit für Wohnungsunternehmen wiederhergestellt wird, damit bezahlbarer Wohnraum geschaffen wird.

Der Unternehmer

Christoph Leicher, der Vorsitzende des Regionalausschusses der Industrie- und Handelskammer (IKH) München-Oberbayern, hofft darauf, dass sich die Regierung bald wieder auf diejenigen konzentriert, die "die Basis des Wohlstands" seien - also seiner Meinung nach die Unternehmer, die unter Bürokratie ächzten. Es gehe nicht um "Formulare und so", sagt Leicher. Er denkt etwa an das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, das Unternehmen in die Pflicht nimmt, dass bei ihren Zulieferern aus fernen Ländern bestimmte Standards eingehalten werden. Dies zu kontrollieren, sei immens. Leicher findet, dass hier staatliche Aufgaben abgewälzt werden. Ebenso wie bei der Pflicht, den Corona-Schutzstatus der Belegschaft im Blick zu haben - ohne eigentliche Befugnis. Überhaupt das Arbeitsrecht: Dort müsse die neue Arbeitswelt in Zeiten von Home-Office geregelt werden. Sollte die Regierung einen "Masterplan" vorlegen, wäre die Wirtschaft dabei. Steuersenkungen stellt Leicher da nicht an die erste Stelle.

Der Kümmerer

Ein großes soziales Thema im Landkreis München ist für Max Wagmann das Wohnen. Einen Mietendeckel hält der Präsidiums-Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt im Landkreis für schwer durchsetzbar. Stattdessen müsse Bauen günstiger werden. Große Hoffnungen setzt Wagmann auf eine Regierung unter Führung der SPD. Mit der Awohnbau-Genossenschaft baut der Sozialverband mittlerweile selbst. Der Genossenschaftsgedanke sollte von Berlin noch stärker unterstützt werden, findet Wagmann. Das Hauptproblem seien die hohen Grundstückspreise. Investitionskostenzuschüsse wären eine Möglichkeit. Wagmann hofft auf die Fortsetzung einer aktiven Sozialpolitik wie zuletzt im Arbeits- und Familienministerium, damit verhindert werde, dass Menschen obdachlos werden. Die Wohnungsnotfallhilfe der Awo sei eine der wichtigen Einrichtungen. "Wenn die Sozialfälle reduziert werden, hat der Staat auch mehr Geld und kann anderes machen."

Der Klimaschützer

Für Willie Stiehler ist es in Sachen Klimaschutz bereits fünf vor zwölf. Deshalb hat er nicht nur klare Forderungen an eine neue Bundesregierung. Der Geschäftsführer der Energieagentur Ebersberg-München verbindet diese auch mit dem Appell, keine Zeit zu vergeuden. Den Ausstieg aus fossilen Energieträgern sowie den Ausbau der erneuerbaren Energien müsse man "wesentlich beschleunigen". Der Bau von Photovoltaik-Anlagen auf dem eigenen Hausdach müsse so unbürokratisch wie möglich gemacht werden. Klimagerechtes Wirtschaften müsse gezielt belohnt werden. "Wir brauchen bundesweit einheitliche Abstandsregeln für Windräder, das Ende von Ausnahmeregelungen und einfachere Möglichkeiten zur Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an der Errichtung und dem Betrieb von Windrädern." Überschüssige Energie aus Wind- und Sonnenenergie müsse in die Produktion von Wasserstoff fließen. Teilen wie etwa beim Carsharing müsse eine größere Rolle spielen. "Hier muss eine neue Regierung Steuerrecht und rechtliche Vorgaben anpassen und eine stärker ausgeprägte Kultur des Miteinanders ermöglichen." Der weitere Ausbau von Autobahnen gehöre dagegen auf den Prüfstand, dafür brauche es mehr Geld für den Nahverkehr.

Die Familien

Kinder sind ein Armutsrisiko - das klingt abgedroschen. Aber der Satz ist nur allzu wahr. Albert Fierlbeck kann das aus eigenem Erleben bestätigen. Der Geschäftsführer der "Donum Vitae"-Beratungsstelle in Haar erlebt, wie Familien mit niedrigem Einkommen und vor allem Alleinerziehende in einer Region mit hohen Mieten wie München kämpfen. Manche lebten zu viert jahrelang in einer Einzimmer-Wohnung. Fierlbeck fordert den Bau von mehr Sozialwohnungen. Einen höheren Mindestlohn fände er gut, auch eine bürgerfreundliche Verwaltung wünscht er sich. So dürfe die Bearbeitung von Wohngeldanträgen nicht Monate dauern. Viele, die schlecht oder nicht deutsch sprechen, seien mit dem Ausfüllen von Formularen überfordert. Nach wie vor gebe es zu wenig Kinderbetreuungsplätze, um Alleinerziehenden das Arbeiten zu ermöglichen, und flexible Betreuungszeiten. Zu oft müssten sich Krankenschwestern im Schichtdienst fragen: "Wie schaffe ich es, das Kind unterzubringen, wenn ich selbst arbeiten gehe?"

Die Jugend

Aus Sicht von Deniz Dadli, Leiter des Jugendzentrums "Planet O" in Oberschleißheim, muss die Politik in Berlin jetzt verlässlich und dauerhaft den Austausch mit der Jugend suchen. Es reiche nicht, sechs Wochen vor einer Wahl mit Kugelschreibern auf Werbetour zu gehen. Die Jugendlichen registrierten genau, wenn sie missachtet würden. Wichtig wäre aus Dadlis Sicht, das Wahlalter auf 16 Jahre zu senken, um mehr Mitbestimmung zu ermöglichen. Die Pandemie habe deutlich gezeigt, wie Kinder und Jugendliche unter sozialer Ungleichheit litten. "Wenn die Eltern die Wohnung nicht mehr bezahlen können", dann spürten diese das unmittelbar. Als gravierend und ungerecht empfindet Dadli auch die ungleichen Verhältnisse bei den Schulen und Sporteinrichtungen im Landkreis. Schüler in reichen Kommunen wie Unterföhring oder Grünwald würden unter anderen, besseren Verhältnissen aufwachsen. Der Bund müsse "Mindeststandards" festlegen.

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SZ vom 05.10.2021/hilb
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