Serie: Landmarken, Folge 8:11 500 Schritte durch eine künstliche Welt

Wo Billy und Poäng zu Hause sind, windet sich täglich ein Besucherstrom entlang markierter Wege. Das Möbelhaus Ikea bestimmt das Ortsbild von Brunnthal

Von Bernhard Lohr, Brunnthal

Die Ikea-Managerin staunte nicht schlecht. Sie hatte sich am Erdinger Flughafen in ein Taxi fallen lassen und dem Fahrer die Adresse genannt. Zum Ikea-Markt wolle sie, sagte sie, und fügte hinzu, zu dem im Süden von München, in Brunnthal. Brunnthaler Straße 1. Als der Taxifahrer sie dann aussteigen lassen wollte, dachte sie, er wolle sie auf den Arm nehmen. Der Wagen hielt mitten in Hofolding, vor einem Bauernhof - und nicht vor einer der bekannten, weltweit gleich aussehenden blau-gelben Kisten, in denen der schwedische Möbelhändler sein Sortiment vertreibt. Der Taxler, der wohl eher im Münchner Norden heimisch war, wusste nichts von der Besonderheit des "Ikea Brunnthal". Als solcher ist er bekannt, doch die Postanschrift ist in Taufkirchen. Auch dort gibt es eine Brunnthaler Straße 1.

Auch in Anbetracht dieser Formalie, die außer auf dem Briefkopf auf manchem Navigationsgerät eine Rolle spielt, darf der Ikea-Markt als prägendes Gebäude in Brunnthal gelten. Denn ein Teil des 75 000 Quadratmeter großen Grundstücks im Gewerbegebiet Brunnthal, auf dem er liegt, ist tatsächlich Brunnthaler Flur. Vor allem aber bestimmt "Ikea Brunnthal" jenseits von Brunnthal das Bild von der Gemeinde, in der Billy und Poäng zu Hause sind.

Wer den Regal- und Stuhlsortimenten und all den anderen Artikeln mit den eigenartigen Namen einen Besuch abstattet, taucht egal in welchem Land in die Ikea-Welt ein. Die Häuser unterscheiden sich in Details, und sind doch in vielem gleich. Eine genaue Zahl will Marktleiter Michael Lenski in Brunnthal nicht nennen, doch in etwa 5000 Besucher zählt im Durchschnitt solch ein Möbelhaus in Deutschland am Tag, fast auf die Ziffer genau so viele, wie Brunnthal Einwohner hat.

Und sie alle werden Tag für Tag in Brunnthal auf dieselbe Reise geschickt. Sie nehmen den "Langen Weg", wie es die Ikea-Leute bezeichnen. Es ist der Parcours, auf dem jeder in todsicherer Abfolge am gesamten Möbelsortiment vorbeikommt. 11 500 Schritte machen die Kunden wie Lemminge auf dem durch Pfeile markierten Weg durchs Haus, um vom Anfang bis zum Ende durchzukommen, sagt ein Ikea-Mitarbeiter in Brunnthal, der den Gang durch das Haus mit Marktleiter Lenski sekundiert.

Im Winter musste der Markt schon evakuiert werden - der Schneelast wegen

Aber was unterscheidet nun Ikea-Brunnthal etwa von Ikea-Singapur? Das ist eine der Fragen auf der Tour. Und wie fühlt es sich an, wenn man über der Ikea-Welt steht? Oder in der Unterwelt?

Eine Besonderheit in Brunnthal, das war schon bei der Eröffnung vor mehr als zehn Jahren Thema, ist die Parkebene unter dem Möbelmarkt. Kurze Wege ins Haus sind die Folge, und man kommt trockenen Fußes in das auf 40 000 Quadratmetern Grundfläche errichtete Gebäude. Marktleiter Lenski begründet das aber vor allem damit, dass der Konzern bei den hohen Grundstückspreisen im Raum München Fläche und somit Geld habe sparen wollen. Im Übrigen ein Aspekt, der in Singapur, wo Flächen noch ungleich knapper sind, dazu geführt hat, dass dort auf einen Ikea-Markt ein mehrstöckiges Bürogebäude draufgesetzt wurde. Auf das Dach des Markts in Brunnthal gelangt man dafür schnell, direkt von der Möbelausstellung führt eine kleine Tür zur Treppe.

Auch jetzt im Hochsommer geht es dort die enge Treppe an vier, fünf Schneeschaufeln vorbei hinauf, bevor man das drei Fußballfelder große Dach betritt. Während der Winter den Hofoldinger in seinem ziegelgedeckten Bauernhof kalt lässt, kann er einem Marktleiter wie Lenski den Schweiß auf die Stirn treiben. Im März 2006 schneite es heftig, dann kam Regen dazu und das Ganze gefror.

Die Schneelast auf dem Dach drohte eine kritische Grenze zu erreichen und der Markt wurde aus Sicherheitsgründen evakuiert. Bevor es wieder soweit kommt, greifen die Ikea-Leute nun zur Schaufel, die der Markt laut Lenski trotz des in Schweden bekanntlich auch beachtlichen Winters nicht im Sortiment hat. Konics heißt der Schneebesen in Ikea-Deutsch, den es in der Markthalle gibt. Schneeschaufel Fehlanzeige.

Lenski führt durchs Haus, vom Dach bis in den Keller. Er will besondere Orte zeigen wie etwa das berühmte Bällebad, in das erst kürzlich bei Aktionstagen Erwachsene mit großer Freude eingetaucht sein sollen. "Als Kind war das immer größer", sagt Lenski. Aber er zeigt auch Orte, an die Kunden sonst nicht gelangen: die Anlieferzone, in der alles durch eines der sieben Tore durch muss, was irgendwann bei den Leuten im Wohnzimmer steht. Lenski nimmt durch das Haus zielsicher den kürzesten Weg durch die Möbelabteilung. Er kennt die Abkürzungen, die auch erfahrene Kunden nutzen, wenn sie von der Kasse aus noch in die Abteilung "Kochen & Zubereitung" zurückwollen, weil sie etwas vergessen haben.

Was draußen abläuft, ist in der Ikea-Welt schnell vergessen

Ikea beherrscht bekanntlich die Verkaufspsychologie. Ein Geheimnis ist sicher, dass vieles irgendwann so vertraut wirkt in dieser künstlichen Welt. Stammkunden könnten womöglich blind das Haus durchqueren und wüssten stets, ob sie gerade bei den Lampen, bei den Badeartikeln oder in der Geschirrabteilung stehen. Je schlechter das Wetter, sagt Lenski, desto mehr Kunden kämen. Was draußen abläuft, ist schnell vergessen in der Ikea-Welt, wo es nahe dem Restaurant höchstens nach Kötbullar und in der Markthalle nach Duftkerzen riecht.

Die Welt in dem blau-gelben Würfel könnte für einige Zeit auch für sich existieren. Kerzen gäbe es genug, zu Essen mit all den Hotdogs und was es noch alles gibt, ja auch. Es ist scheinbar für alles gesorgt. Mächtige, feuerwehrrote Rohre führen von der Sprinkleranlage im Kellerbau hoch ins Haus, damit im Ernstfall ein Brand nicht außer Kontrolle geraten kann. Das künstliche Licht, das außer im Restaurant und im Glashaus in Brunnthal alleine alles illuminiert, darf natürlich nicht ausgehen. Im Technikraum steht ein großer Schiffsdiesel, der mit der Kraft von 1300 PS auch bei Stromausfall alles am Laufen halten kann. Kluth heißt der Diesel, nach der Herstellerfirma. Klingt irgendwie auch schon nach Ikea.

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