Süddeutsche Zeitung

Scouting beim TSV Unterhaching:Selbstbewusst am Schwebebalken

Bei seiner Talentsichtung sucht der TSV Unterhaching den Nachwuchs für die Turnabteilung. Die Kinder sollten Kraft, Geschicklichkeit, aber auch Mut und Offenheit besitzen. Das Ziel der Eltern ist oft nicht der Leistungssport, denn sie wissen, wie hart das werden kann.

Von Cristina Marina, Unterhaching

Schon allein der Geruch macht einem deutlich, dass man gerade ein anderes Universum betreten hat: Unten dunkelblaues Linoleum - oben orangefarben gestrichene Wände, es riecht nach Desinfektionsmitteln und Holz, nach Schweiß, vielleicht auch einmal nach Tränen.

Der TSV Unterhaching bietet immer wieder Talentsichtungen an, diesmal für Mädchen. Ein paar Mütter laufen, schnatternde kleine Töchter im Schlepptau, schweigsam die Treppe herunter, die nachtblauen Flure entlang, bis sie sich schließlich in der "Gerätehalle", einem Raum voller wundersamer Gegenstände wiederfinden.

Sollten die Mädchen es bei der Sichtung schaffen und beim Eignungstest weiterkommen, würden sie in den Leistungssport hineinwachsen. Für den Verein ist es wichtig, frühzeitig Talente zu finden und sie auszubilden. Das deutsche Turnen erlebt derzeit gerade bei den Damen eine Hochzeit. "Wir können sagen, dass wir im Augenblick zur Weltspitze gehören", sagt Dieter Koch, Landestrainer im Bayerischen Turnverband.

Gerade auch der TSV Unterhaching hat mit den jüngsten Erfolgen bei Jungen wie bei Mädchen Weichen gestellt. Doch um den einmal erreichten Erfolg zu halten, ist der Verein dringend auf Nachwuchs angewiesen. Ausnahmetalente rechtzeitig zu entdecken ist dabei freilich kein kinderleichtes Spiel.

Wortwörtlich kinderleicht soll hingegen der Eignungstest an diesem Nachmittag sein. Elf Mädchen warten bereits aufgereiht und in niedlicher Sportaufmachung, dass der Spaß endlich einmal losgeht. Bis dahin kuschelt Ella noch einmal mit ihrer Mutter. Sie ist fünf. Alle Kinder sollten zwischen vier und sechs Jahren alt sein, doch einige liegen altermäßig darunter - das geht; darüber hingegen geht es nicht. Ellas Schwester ist bereits sieben; zunächst wurde sie ebenfalls zur Sichtung eingeladen, doch gleich darauf kam die Absage hinterher.

Mit sieben Jahren zu alt

Mit sieben Jahren sei es bereits sehr spät, erklärt Dieter Koch. Der Trainer führt heute zusammen mit Veronika Paulicks die Talentsichtung durch. In den Nachwuchsprogrammen gebe es feste Wettkampfinhalte, sagt der Profi, und wenn man nicht "von Anfang an" geturnt habe, hätte man es ausgesprochen schwer. In seinen 40 Jahren Berufserfahrung habe Koch "nur einen richtigen Quereinsteiger" erlebt: Ein Mädchen aus Asien, das aus dem Karatesport kam, habe es am Ende geschafft, in der Nationalmannschaft zu turnen und Titel zu gewinnen. Die Ausnahme.

Bis dahin haben die kleinen Bewerberinnen buchstäblich einen langen Weg vor sich. In einem Parcours mit mehreren Stationen wollen Koch und Paulicks ihre verschiedenen Fähigkeiten testen. Wesentlich seien Beweglichkeit, Kraft, Geschick, aber auch Offenheit und Mut. Mit "mäusehaften" Kindern könne sie im Training nicht viel anfangen, erzählt Veronika Paulicks.

Vor allem müsse sie aber merken, "dass die Kinder von sich aus gerne Sport machen", und nicht "dass die Eltern sie dort hinschieben". Dieser "falsche Ehrgeiz" der Eltern, die unbedingt wollten, dass ihr Kind im Turnen einmal "ganz toll wird", bringe am Ende nichts. Trotzdem sei dies oft genug der Fall.

Für Xing und Jürgen Kramer stimmt das nicht. Sie sind die Eltern von Ophelia (3) und Leonore (4). Die 36-jährige Informatikerin stammt aus China und weiß, wie hart das Training im Leistungssportbereich sein kann. "Das wollen wir für die Kinder gerade nicht", erklärt Jürgen Kramer. "Sie sollen hier etwas Disziplin lernen, ein Körpergefühl entwickeln, Struktur bekommen", sagt der Chemiker. "Doch vor allem selbstbewusst werden", fügt seine Frau hinzu. Leistungssport - nein, danke.

Doch die Trainer hoffen, dass die Eltern besonders talentierter Kinder es sich später doch noch einmal anders überlegen. "Wir sind auf die Unterstützung der Eltern angewiesen", sagt Koch. Denn eine Belastung sei zweifellos da. Angefangen werde mit zweimal in der Woche Training, danach würde es allmählich immer mehr; zugleich würden auch die Anforderungen in der Schule steigen. Doch wenn die Kinder von sich aus turnen wollten, sei alles machbar, sagt Koch aus Erfahrung.

Am Parcours ist gerade Ella dran. In ihrem Turnanzug, dessen Farben an ein Meereswesen erinnern, bewegt sich die Fünfjährige sicher und scheint Freude daran zu haben. Die Kinder müssen sich zunächst an einer schräg aufgestellten Langbank hochziehen, dann herunterspringen, über einen sogenannten Stufenbarren klettern, auf dem schmalen Schwebebalken laufen - dabei in der Mitte stehen bleiben und sich einmal drehen - und abschließend, einer Kennzeichnung auf dem Boden folgend, die letzte Strecke möglichst schnell zurücklegen. "Super", sagt Koch, als Ella fertig ist. Die Dreijährigen können hingegen nicht alles meistern: Auf einem Bein hüpfen geht zum Beispiel noch nicht; sie dürfen ausnahmsweise zwei Beine dafür benutzen.

Ellas Mutter heißt Nicole Schober. Sie sei "ein bisschen zwiegespalten", wie es weiter gehen soll, wenn Ella als Talent entdeckt würde. Die 45 Jahre alte Lehrerin weiß, dass dafür die ganze Familie Opfer bringen müsse. Schober will daher erst das Ergebnis der Sichtung abwarten, das per Mail geschickt wird, und "alles andere auf sich zukommen" lassen.

Wenige Schritte weiter trainieren einige ältere Mädchen am Barren, darunter Chiara Strecker. Die Zwölfjährige mit rosa Turnanzug und muskulösen Oberarmen ist den gleichen Weg gegangen wie die Mädchen, die diesmal hier antreten. Vor fünf Jahren wurde sie bei der Talentsichtung entdeckt - mittlerweile ist sie Deutsche Jugendmeisterin.

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Quelle:
SZ vom 30.12.2017/belo
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