Schultheater:Heilige Johanna im Speckgürtel

Schultheater: Dialog auf der blutroten Couch: Jonas Hoyer und Nadine Erhardt bei einer Probe für "Die heilige Johanna der Schlachthöfe".

Dialog auf der blutroten Couch: Jonas Hoyer und Nadine Erhardt bei einer Probe für "Die heilige Johanna der Schlachthöfe".

(Foto: Claus Schunk)

Die Theatergruppe des Neubiberger Gymnasiums bringt Brechts Lehrstück von 1930 als erschreckend aktuelle Kapitalismuskritik auf die Bühne. Eine Dokumentarfilmerin begleitet die Inszenierung.

Von Irmengard Gnau, Neubiberg

Mit christlicher Nächstenliebe ist dem Kapitalismus nicht beizukommen. So sieht das zumindest Bertolt Brecht. "Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht", lässt der 1898 geborene Dramatiker seine Protagonistin am Ende seines Stücks "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" sagen. Brecht schrieb die "Johanna" um 1930 vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise in Deutschland, doch die Themen, die er aufgreift, betreffen die heutige Gesellschaft genauso, ist Alexander Klessinger überzeugt. Der 32-Jährige inszeniert das Stück gerade mit 16 Schülern am Gymnasium Neubiberg. "Brechts Stoff ist brandaktuell. Ich denke, die Zeichen der Zeit sind heute stärker als vor vielleicht fünfzig, sechzig Jahren", sagt Klessinger, "nach der Agenda 2010 und angesichts der globalen Wirtschaftsentwicklung."

Ein schwerer Stoff, der Schülern einiges abverlangt

Mit seinen jungen Schauspielern arbeitet Klessinger seit mehreren Monaten an Brechts Text. Ein schwerer Stoff, der auch den Schülern einiges abverlangt. Sie haben sich im Vorfeld intensiv mit der deutschen Schlachtindustrie und ihren Akteuren beschäftigt, haben Texte und Medienberichte aufgearbeitet. "Mir sind einige Zusammenhänge klarer geworden", erzählt Daniel Athen, 18, einer der Hauptdarsteller. Dass in einem verbundenen Wirtschaftssystem keine Handlung ohne Auswirkung bleibt, zum Beispiel. Brecht nutzt ein radikaleres Bild - die eine Seite kann nur profitieren, weil die andere übermäßig abgibt. Nicht freiwillig, versteht sich.

Einen deutlichen Bezug zur Realität erhält die Inszenierung außerdem von außen: Die Regisseurin Yulia Lokshina und Kamerafrau Lilli Pongratz begleiten die Theatergruppe. Die Auseinandersetzung der Schüler mit Brechts sozialkritischem Johanna-Stoff soll die dokumentarischen Aufnahmen aus dem hier und heute der Fleischindustrie einrahmen. Für ihre Abschlussarbeit an der Hochschule für Film und Fernsehen in München hat sich Dokumentarfilmerin Lokshina dem Thema Arbeit und wie diese das Leben des Einzelnen strukturiert angenähert.

"Was ist denn heute ein Arbeiter? Dieser Begriff ist völlig verschwunden", sagt Lokshina. Den Fokus ihres Films legt sie auf prekäre Formen der Arbeit: Zeitarbeit, unsichere Beschäftigungsverhältnisse, die die Menschen ausliefern und damit ein selbstbestimmtes Leben stark einschränken. Verbunden damit steht die Arbeitsmigration, auch und gerade in Europa. Am Beispiel der deutschen Schlachtindustrie zeigt Lukshina diese Problematiken auf. "Es geht nicht nur darum, auf einen Missstand hinzuweisen, sondern auch darüber nachzudenken, warum der Diskurs über diesen Missstand fehlt", sagt die Regisseurin. Über einen Missstand, der vor der eigenen Haustür stattfindet, wohlgemerkt.

Das ist auch den jungen Schauspielern während der Vorbereitung des Stücks bewusst geworden. "Man realisiert, dass das Ganze nicht so weit weg ist, wie man denkt", sagt Lea Franke. Dass es in Deutschland Arbeitsverhältnisse gibt, in denen Menschen unter solch immensem Druck stehen, war für die Neubiberger Schüler gewissermaßen ein Augen öffnendes Erlebnis. Sie verhalte sich etwa beim Fleischkauf heute viel bewusster, erzählt Nadine Ehrhardt, die die Johanna spielt.

Fragen nach Verantwortlichkeit

Das war auch Motivation für Klessinger. Sein Anliegen ist es, dass sich seine Theaterschüler hier im Landkreis, der so gern als Münchner Speckgürtel bezeichnet wird, mit den Fragen nach Verantwortlichkeit und strukturellen Zusammenhängen, die Brecht aufwirft und teils radikal beantwortet, auseinandersetzen müssen - ebenso wie auch das Publikum. "Ich hoffe auf eine Irritation", sagt Klessinger mit einem Lächeln. "Wenn die Zuschauer vielleicht etwas mulmig ahnen, dass das so weit von ihnen nicht weg ist - politisch ignoriert und von uns allen durch unseren Konsum offensichtlich geduldet -, bin ich sehr zufrieden."

Den moralischen Zeigefinger, der bei Brecht sehr deutlich wird, will die Inszenierung aber nicht heben. Gleichwohl, meint Schauspieler Daniel Athen, soll das Stück kein leichtes Amüsement werden: "Wir wollen zum Nachdenken Anstoß geben. Wenn die Zuschauer einen entspannten Abend hatten, haben wir etwas falsch gemacht."

Die Theatergruppe des Gymnasiums Neubiberg zeigt Bertolt Brechts "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" von Mittwoch, 7. März, bis einschließlich Samstag, 10. März, jeweils von 20 Uhr an im Theaterkeller der Schule in der Cramer-Klett-Straße 10 in Neubiberg. Der Dokumentarfilm von Yulia Lokshina soll voraussichtlich im Frühjahr 2019 fertig werden.

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