Süddeutsche Zeitung

Schulpolitik:"Dann müssen wir alles auf den Kopf stellen"

Die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands Simone Fleischmann fordert klare Ansagen von der Politik. Sollte der Lockdown für die Schulen noch lange dauern, dürfe das Schuljahr Kindern in allen Jahrgangsstufen nicht angerechnet werden

Interview von Alexandra Leuthner

Kein Thema wird neben den Corona-Beschränkungen so heftig diskutiert wie die Schulpolitik. Jeder glaubt, dazu seine eigene Wahrheit zu haben. Was aber sagt jemand, der sich seit Jahren damit befasst, wie Simone Fleischmann? Die frühere Leiterin des Schulberatungszentrums Feldkirchen ist seit fünf Jahren Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) und vertritt 67 000 Pädagogen aller Schularten.

SZ: Frau Fleischmann, wie geht's Ihnen im Moment?

Fleischmann: Für uns ist es eine Zeit, in der wir zwischen den Ansagen der großen Politik und den realen Bedingungen an den Schulen ständig ausbalancieren müssen. Die Diskrepanz zwischen politischen Ansagen, oftmals durchaus wohlgemeinten Vorschlägen des Ministerpräsidenten, des Kultusministers und dem, was die Realität bei Kindern, Lehrern, Eltern gerade zeigt, ist immens. Da sind wir Mittler, Spiegel der Realität und Anwalt der Kollegien, etwa, was die Feriendiskussion angeht.

Bei der man den Eindruck hatte, dass der Aufschrei bei Schulen, Lehrern und Eltern erstaunlich leise war.

Nein, leise keinesfalls - ich empfand diesen als laut, aber auch irgendwie dann doch gebremst. Ferien und Lehrer: ein Begriffspaar, das in der Gesellschaft ein echter Zünder ist. Ich selbst habe die Absage der Ferien als No-Go bezeichnet. Das ist für uns Lehrerinnen und Lehrer eben genau so. Aber wir alle leben auch mit Menschen zusammen, die keine Lehrer sind, und die fragen uns: "Schnallt Ihr eigentlich, was ihr für einen Luxus habt, was für einen krisensicheren Job, wenn andere die Firma aufgeben oder in Kurzarbeit müssen?" Die öffentliche Stimmung spüren wir gerade jetzt deutlich. Es war immer schon so, dass wir Beamten in Krisenzeiten beneidet wurden, in wirtschaftlich stabilen Zeiten schauen wir auf die anderen, die oft doppelt so viel verdienen wie wir.

Aber haben Sie nun für die Absage der Faschingsferien Verständnis?

Wir sind uns alle im Klaren darüber, welche Strategie dahinter steht: Wir haben keine Ferien, dann bleiben auch alle zu Hause und fahren nicht mit dem Schlitten an den Tegernsee. Sind wir dann aber immer noch im Distanzunterricht, wird der Widerstand groß, weil das bedeutet, dass wir diesen echt herausfordernden Zustand elf Wochen am Stück haben. Sollten wir Anfang Februar wieder in ein Wechselmodell gehen, worauf ich vor allem für die Erst- und Zweitklässler sowie die Abschlussschüler hoffe, und dann wären am 15. Februar schon wieder Ferien, das wäre freilich schwerer zu vermitteln.

Der Distanzunterricht ist also eine Riesenbelastung für Schulen und Lehrer?

Wir sind alle zusammen stark gefordert und wir fragen uns, wie das auf lange Strecke gut und effizient gehen kann, Notbetreuung und Distanzunterricht. Es gibt Schulen, da ist das ein großes Problem, und solche, die haben viel Unterstützung von den Trägern, da ist in der Notbetreuung oft kein einziger Lehrer. Je nachdem wie es ist und wie stark die Notbetreuung in Anspruch genommen wird, sind wir weit über der Doppelbelastung.

Wo müsste man denn jetzt ansetzen?

Uns liegt daran, dass alles, was bildungspolitisch als Ansage kommt, ins Gesamtgefüge passen muss. Keine Schüler in der Grundschule, aber im Sandkasten sitzen sieben Kinder mit Rotznasen zusammen - das passt nicht zusammen. Widerstände entstehen, wenn nicht verstanden wird, was zu tun ist. Und das haben wir in letzter Zeit oft an den Schulen erlebt. Jetzt kriegen Lehrer dankenswerterweise endlich FFP2-Masken, aber was ist mit den Schülern, die ständig die Selbstgenähte tragen?

Kultusminister Piazolo wird ja spätestens seit Beginn der Pandemie heftig kritisiert. Berechtigt oder nicht?

Die Frage ist, was würde ein anderer Kultusminister oder eine -ministerin ab morgen anders machen? Ich kann mir schon einen Kultusminister wünschen, der sich dagegen stellt, dass die Ferien ausfallen, der auch mal laut brüllt, sich deutlich vor uns stellt, aber ob dies dann allen passt, ist fraglich. Bei Schulpolitik redet jeder mit, von der Oma, der Nachbarin bis hin zu Leuten, die gar keine Kinder haben, sie ist nach dem Gesundheitsschutz Topthema. Wer dieses Ressort zu vertreten hat, steht immer im Fokus. Ich will ihn nicht verteidigen, ich wünsche ihn mir auch progressiver. Aber zur ganzen Wahrheit gehört halt auch, dass er wohl vieles einfach nicht darf. Dennoch: kein Mitleid, sondern die Aufforderung sich für die Arbeitsbedingungen in der Schule stark zu machen.

Also hat er Ihrer Meinung nach keine Fehler gemacht?

Selbstverständlich sind Fehler gemacht worden: aber auch schon vor Corona! Es sind im bayerischen Schulsystem jetzt alle Baustellen für alle sichtbar ins Scheinwerferlicht geraten. Etwa der Übertritt. In einem Jahr, in dem nichts normal ist, ist auch die normale Leistungsrückmeldung auf dem Prüfstand. Der BLLV sagt: Es geht so nicht, Punkt. Aber der Übertritt ist - leider für viele - die Heilige Kuh im Schulsystem. Erst waren es 24 Proben in der vierten Klasse, dann 18, jetzt 14, nächsten Monat sind wir vielleicht bei zehn, davon ist jede dann doppelt so gewichtig wie die 24. Der Stress wird erhöht anstatt reduziert.

Was schlagen Sie also vor?

Wir waren immer schon für die Freigabe des Elternwillens, für längere gemeinsame Schulzeit, für Entstressung bei zehnjährigen Kindern. Wir sind nicht gegen ein leistungsorientiertes Schulsystem, Kinder wollen Leistung rückgemeldet haben, aber wir sagen, dass dieser Stress rund um den Übertritt im Mai, wenn der Notendurchschnitt verkündet wird, keinen Sinn macht. Wir wissen, dass Eltern in der zweiten Klasse schon Nachhilfe suchen und großen Druck machen, damit ihr Kind mit 2,33 nach der Vierten zum Gymnasium gehen kann. Diesen kranken Mechanismus in dieser abnormalen Coronazeit aufrecht erhalten wollen, ist ein absoluter Fehler. Aber für einen Kultusminister ist es natürlich Harakiri, das zentrale Element des bayerischen Schulsystems zu verändern.

Wie sähe Ihre praktische Lösung aus?

Wir fordern einen Korridor für alle, wir brauchen eindeutige, rechtlich einwandfreie und breit kommunizierte Ansagen, wo wir in der nächsten Zeit langmarschieren können. Der Lehrer entscheidet dann aufgrund seiner Professionalität in seiner Klasse, welche Proben, wie viele, zu welcher Zeit, mit welcher Gewichtung geschrieben werden.

Mit dem Verzicht auf Leistungsstress ist es kaum getan. Was braucht es noch, um möglichst viele Schüler mitzunehmen?

Wir brauchen an den Schulen grundsätzlich eine andere Personalausstattung. Etwa für eine Mittelschule mit 180 Schülern einen Psychologen jeden Tag an der Schule, Schulsozialarbeiter, für die Kinder, vielfältige Präventionsangebote, einen Mediencoach und und und... Und wenn wir jetzt von Corona reden und den Kindern, die nicht nur durchs digitale Netz, sondern vor allem durchs soziale Netz fallen, dann wird klar, was Schule neben Mathe, Deutsch und Physik bedeutet. Diesen Kindern fehlt alles. In der Früh das Lächeln der Lehrerin, in der Pause die Kumpels, das Fußballspielen, das warme Mittagessen, die Förderlehrerin in der Ganztagsbetreuung, die sagt, du schaffst das schon. Wir brauchen so etwas wie die "aufsuchende Jugendarbeit", jetzt! Menschen, die nach Hause zu den Kindern gehen - nicht nur die Kolleginnen, die Arbeitsblätter vorbei bringen. Das haben übrigens viele Kollegen gemacht in der ersten Welle: Weil wir froh waren, das Lächeln von dem Kind gesehen zu haben, das in keiner Videokonferenz war, keine Emails abgerufen hat.

Von den 5,5 Milliarden, die im Digitalpakt beschlossen wurden, ist bisher ja nur ein Fünftel abgerufen worden.

Da ist viel aufgrund von Bürokratie auf der Strecke zu den Schulen hängen geblieben. Wir brauchen diese finanziellen Ressourcen, aber momentan müssen wir uns die Frage stellen, ob dieses Geld Kinder richtig auffängt, bildet und erzieht. Wir können jetzt digital, wir sind stolz darauf, dass es soundsoviele Plattformen gibt. Aber wir verlieren die Kinder, die nicht alleine lernen können, eigentlich von den Eltern und dem schwierigen Setting zu Hause eher noch behindert werden. Das sind immer schon Bildungsverlierer im bayerischen Schulsystem. Jetzt würde ich mir wünschen, dass Söder das Geld für Personal in die Hand nimmt und nicht in Silicon Valley hoch zwei investiert. Es gibt übrigens auch Eltern, die Endgeräte gar nicht anfordern, weil sie es sich nicht zu sagen trauen, weil sie Angst haben, dass sie damit nicht umgehen können, und, das ist ganz fatal, dass damit in ihre Wohnung geschaut wird.

Wie lang kann man Distanz- oder Wechselunterricht durchhalten, bis man einen Jahrgang komplett streichen muss, weil zu viele Schüler zu viel versäumt haben?

Wir müssen jetzt schon die Erwartungshaltung runterschrauben. Es kann nur so gehandhabt werden, dass dieses Schuljahr, das von September bis Februar nicht normal war, dann eben auch kein normales ist, egal wie lang noch Distanz- oder Wechselunterricht ist. Dann kann auch die Leistungskultur nicht normal sein, dann kann kein Übertritt normal gemanagt werden.

Was heißt das konkret?

Also wenn das jetzt tatsächlich bis Ostern geht, was ich nicht hoffe, dann dürfen wir das Jahr den Kindern nicht anrechnen, dann müssen wir alles auf den Kopf stellen. Dann muss es vielleicht normal sein, dass ich nicht von der Siebten in die Achte gehe, oder nur manche das tun. Aber das wird noch eine hitzige Diskussion, auch weil man damit an den Grundfesten der bayerischen Schulpolitik kratzen muss.

Müsste man Lehrpläne entrümpeln, weil die Schüler Defizite mitschleppen?

Es ist tatsächlich nichts damit gewonnen, den Kindern ein Jahr zu schenken, weil ihnen natürlich ein Teil an Kompetenzen fehlt. Aber wir könnten helfen: differenzieren, fördern und individualisieren. Das aber kann nicht der gleiche Pool an Lehrern schaffen, schon gar nicht bei Lehrermangel an Grund-, Mittel- und Förderschulen.

Dafür braucht es doppelt so viele Lehrer...

Das ist das Problem. Wir haben ja schon Lehrermangel in Grund- und Mittelschulen. Wir schenken den Kindern ein Jahr, können ihnen aber mit den Lehrerinnen und Lehrern, die wir haben, keine differenzierte Förderung anbieten. Halbherzig und damit ungut. Leider!

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Quelle:
SZ vom 16.01.2021
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