SZ-Kulturpreis Tassilo:Wenn der Joghurtdeckel zum Relief und die Muschel zur Welt wird

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Schicken Kinder auf die kreative Spielwiese: Luzi Gross, Annika Hornsteiner und Lilli Plodeck, die Gründerin der Schule (von links). (Foto: Catherina Hess)

In der "Schule der Phantasie Gräfelfing" geht der Schöpfergeist von Kindern und Jugendlichen auf Entdeckungsreise. Wichtiger als das Werk an sich ist die Entfesselung der Kreativität. Die Kursleiterinnen um Lilli Plodeck machen die künstlerischen Arbeiten auch öffentlich sichtbar.

Von Annette Jäger, Gräfelfing

Das wandfüllende Regal in der Werkstatt ist ein wahres Museum der Sachen: Marmeladengläser voller Pinsel und Stifte reihen sich darin auf, kistenweise gesammeltes Schwemmholz findet Platz, Wachsmalkreiden in allen Farbschattierungen sind zu finden, auch Stempel und Blöcke, Tuschen, Boxen voller Papiere, dick und dünn, schimmernd und matt, und gleich daneben warten in übereinandergestapelten Schubladenkästen Schusser auf eine neue Verwendung, genauso wie gesammelte Aluteile, Bonbonpapiere, Sektkorken oder Folien und ein Sammelsurium an exotischen Muscheln.

Das Regal hat Anziehungskraft. Die Kinder und Jugendlichen, die die Kurse der Jugendkunstschule "Schule der Phantasie Gräfelfing" besuchen, stehen immer wieder staunend davor, suchen mit den Augen das Regal ab. All die Regalschätze sind Schlüssel zu ihrer Phantasie. Einmal aufgesperrt, den schöpferischen Geist freigelassen, schaffen die Kinder verzaubernde Phantasiewelten mit ihnen.

Die "Schule der Phantasie Gräfelfing" rüttelt die Kreativität in den Kindern wach. Die bunte, materialgefüllte Werkstatt im Souterrain der Grundschule in Gräfelfing bietet den Raum und die Atmosphäre, in der Kinder ihre Neugier ausleben können, ihre Experimentierfreude entdecken und ihre Gestaltungskraft erleben. "Wir machen keine Kunst", sagt Luzi Gross, die zum Team der sechs Kursleiterinnen gehört. Das eindrucksvolle Kunstwerk am Ende eines Kurstages ist nicht das Ziel. Vielmehr sollen die Kinder verschiedene Techniken kennenlernen, selbst ins Machen kommen und erleben, was es heißt, künstlerisch tätig zu sein.

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Und so probieren sich die Kinder und Jugendlichen zwischen fünf und 15 Jahren, die die Kurse besuchen, beim Malen an der Staffelei aus, mischen selbst Farben, lernen diverse Drucktechniken kennen, arbeiten skulptural mit Holz, Stein und Ton. Sie erfinden Spiele, bauen zimmerhohe Türme aus bunten Klötzen, schütten Sandbilder, erfinden Bildgeschichten und gehen für Landart-Projekte in den Wald. Sie entwickeln einen neuen Blick auf die Welt, wenn ein Joghurt-Aludeckel zum Relief wird oder ein Stück Baumwurzel zu einem Vogel. "Sich mit beiden Händen ein Bild von der Welt machen" ist der Leitspruch der Schule und das, was Kinder in den Kursen der Schule Woche für Woche aktiv tun.

Vor mehr als 30 Jahren hat Lilli Plodeck die Schule der Phantasie Gräfelfing nach dem Konzept von Rudolf Seitz, Professor an der Münchner Kunstakademie, gegründet. Damals habe Seitz, bei dem Plodeck selbst Kunsterziehung studiert hat, ein "Feuerwerk" an Vortrag vor dem Gemeinderat gehalten, erinnert sie sich. Es war der Türöffner für die Gründung der Schule in Gräfelfing, anfangs hat die Gemeinde die kompletten Kosten getragen. Heute ist die Schule der Phantasie eine Institution am Ort und eine ganze Generation Kinder und Jugendliche hat sich in den Kursen auf künstlerische Entdeckungsreise gemacht. Inzwischen schicken ehemalige Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Kinder in die Kurse, erzählt Plodeck. Seit 2013 agiert die Schule der Phantasie als gemeinnützige GmbH und ist Mitglied im Landesverband der Jugendkunstschulen, sie wird von der Gemeinde weiterhin finanziell unterstützt und vom Gräfelfinger Kunstkreis gefördert.

Auch Kinder und Jugendliche, die sonst keinen Zugang zur Kunst haben, werden erreicht

Die Schule der Phantasie bringt das kreative Arbeiten auch zu Kindern und Jugendlichen, die sonst keinen Zugang zu Kunst oder zu den Kursen haben. Seit 2015 gibt es eine Kooperation mit der Grundschule, die als Modellprojekt des Kultusministeriums startete, mit dem Ziel, kreatives Arbeiten in den Lehrplan zu integrieren. Die Schule der Phantasie vertrat die Region Oberbayern. Seit zwei Jahren führt die Grundschule mit ihr das Projekt in Eigeninitiative weiter, finanziert durch Fördergelder der Schule wie der Gemeindestiftung. Auch mit der Mittelschule Lochham gibt es eine Kooperation und immer wieder gemeinsame Projekte, bei denen Schüler oft Neuland betreten. Plodeck erinnert sich an ihre Frage an die Schüler, wer überhaupt schon mal im Museum war - genau einer hob die Hand. Bei einem Landart-Projekt, bei dem die Schülerinnen und Schüler im Wald mit Moos, Ästen oder Wurzeln arbeiteten und ihr kreatives Talent entdeckten, geriet zur wahren Pionierleistung, "viele waren noch nie im Wald gewesen".

Die Schule beteiligt sich auch an Kunstaktionen im öffentlichen Raum

Der Schöpfergeist verlässt auch die Werkstätten und zeigt sich: Die Schule der Phantasie beteiligt sich immer wieder an Kunstaktionen im öffentlichen Raum. Die künstlerischen Arbeiten der Kinder sichtbar machen, ist zentraler Bestandteile des Schulkonzepts. Und so haben die Kinder schon in Kooperation mit dem Gräfelfinger Müllentsorgungsunternehmen Wittmann zwölf Müllautos mit riesigen Zeichnungen und Texten zum Thema Müll in der Umwelt verziert, haben die Fußgängerunterführung der S-Bahnhaltestelle bemalt und zuletzt nach der Bundestagswahl Wahlplakate auf dem Bahnhofsplatz gestaltet, auf denen sie ihre Wünsche an die Politiker gestalterisch formulierten.

Kindlich-kreatives Sammelsurium. (Foto: Catherina Hess)

Sichtbar werden die Arbeiten auch, wenn etwa Werke der Mittelschüler in der kleinen Galerie "Ideenreich" im Bürgerhaus ausgestellt werden oder die Schüler sich an Ausstellungen des Kunstkreises beteiligen. Es werden auch immer wieder Postkarten von Aktionen gedruckt oder Leporellos vervielfacht, die die Kinder verteilen können. Die Kinder macht das stolz und sie fühlen sich wertgeschätzt, so die Erfahrung der Kursleiterinnen. Bei den Projektarbeiten Teil von etwas und in der Gruppe wirksam zu sein, ist für viele eine neue Erfahrung, sagt Luzi Gross.

Wenn die Phantasieschüler nach Hause gehen, dann nehmen sie im besten Fall eine große Portion Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten mit, meint Plodeck. Sie trauen ihrem Blick, haben Selbstwirksamkeit erlebt und Selbstbewusstsein entwickelt. Vor allem ist die Lust und Neugier auf Kunst entfacht. Ob das immer so gelingt, kann sie nur vermuten. Mitunter legen Rückmeldungen von Eltern und Schülern nahe, dass die Schule den richtigen Weg geht. Wie neulich der Vater, der seine Tochter zum Kurs brachte und sagte: "Ich weiß nicht, was sie hier machen, aber meine Tochter ist glücklich."

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