Süddeutsche Zeitung

Schulbegleiter:Ruhepol im Klassenzimmer

Wenn es Kindern wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung schwerfällt, dem Unterricht zu folgen, stehen ihnen Schulbegleiter wie Patrick Seybold zur Seite. Sie brauchen Empathie, Durchsetzungsfähigkeit - und starke Nerven.

Von Sabine Wejsada, Unterschleißheim

Zu Anfang ist es durchaus kompliziert gewesen. Der Elfjährige, dem Patrick Seybold hilft, sich in den Schulalltag zu integrieren, hat sich im September erst einmal daran gewöhnen müssen, einen Menschen an seiner Seite zu haben, der ihn beim Unterricht in der Rupert-Egenberger-Schule in Unterschleißheim begleitet, einem der zwei sonderpädagogischen Förderzentren im Landkreis München. Genau wie die Lehrer und auch die anderen Schüler in der Klasse. Doch Seybold, Dreadlocks und offenes Lächeln, hat gute Nerven - und Erfahrung als Schulbegleiter. "Der Junge wollte halt seine Grenzen austesten, das ist ganz normal", sagt der 32-Jährige über den Buben, der Autist ist. "Mittlerweile läuft es gut."

Patrick Seybold arbeitet für den Kreisverband der Arbeiterwohlfahrt (Awo) im Landkreis München. Er ist einer von mehr als hundert Frauen und Männern unterschiedlichen Alters und beruflichen Hintergrunds, die Kinder unterstützen, die sich in der Schule nur schwer zurechtfinden und individuelle Hilfe brauchen. Seit 2010 stellt die Awo deshalb in Teilzeit arbeitende Schulbegleiter ein. Mit deren Unterstützung soll Buben und Mädchen mit sonderpädagogischem Förderbedarf dazu verholfen werden, einen positiven und erfolgreichen Besuch einer Regelschule zu haben. Und es geht darum, einer Ausgrenzung und Stigmatisierung der Betroffenen entgegen zu wirken. Kindern und Jugendlichen, die eine körperliche, geistige oder seelische Behinderungen haben, soll mit Hilfe der Begleiter der Schulbesuch erleichtert werden.

Der Bedarf ist groß, und zwar auf beiden Seiten, wie Cornelia Scharnagl sagt. Sie koordiniert bei der Arbeiterwohlfahrt seit sieben Jahren Ausbildung, Bestellung und Einsatz der Schulbegleiter. Diese arbeiten an Regelschulen - von der Grund-, Mittel- und Realschule bis zum Gymnasium - und auch an den Sonderpädagogischen Förderzentren im Landkreis München. So sei nicht nur die Zahl der betroffenen Kinder und Jugendlichen hoch, die eine Unterstützung bräuchten, auch die Awo sucht fortlaufend Mitarbeiter für diesen Bereich.

Das Anforderungsprofil für diese Aufgabe ist definiert: "Haltung haben", das müsse ein Schulbegleiter in jedem Fall, sagt Scharnagl, ebenso braucht es Empathie, Respekt und die Fähigkeit, Grenzen zu setzen. "Klar sein, nicht mitleidig und nicht alles persönlich nehmen." Erfahrungen im pädagogischen Bereich sind nicht zwingend notwendig. So seien pensionierte Journalisten, Schauspieler oder frühere Unternehmer im Dienst, Frauen, die selbst Kinder haben, und Leute aus unterschiedlichen Berufen. Sie müssen eine Qualifizierung durchlaufen, 140 Unterrichtseinheiten, an deren Ende sie ein Zertifikat als Schulbegleiter ausweist. Es folgen regelmäßige Fortbildungstage und Supervisionen.

Die Arbeit als Schulbegleiter bei der Awo, die im Landkreis München Kinder und Jugendliche mit Autismus, ADHS und Verhaltensauffälligkeiten betreut, ist anspruchsvoll - "und schön", wie Patrick Seybold sagt. Sein Arbeitstag beginnt vor dem Schulgong. Der 32-Jährige trifft seinen Schützling in der Schule, ist mit ihm im Unterricht, sitzt aber nur direkt neben ihm, wenn in einem Fach intensive Hilfe von Nöten ist. Zum Beispiel wenn es mit dem Mitschreiben nicht so gut klappt oder der Elfjährige unruhig wird, weil er sich plötzlich unwohl fühlt

. "Für Mathe braucht er mich nicht, das macht er ganz allein sehr gut", erzählt Seybold. In den Pausen ist der Schulbegleiter dabei, hält Abstand. Mit Schulschluss ist der Dienst für ihn noch nicht vorbei: "Berichte schreiben müssen wir auch." Und Kontakt halten - mit den Lehrern und natürlich auch den Eltern des Schülers. "Ich sehe mich als eine Art Koordinierungsstelle, die den Weg ebnet", sagt Seybold.

Meist haben Schulbegleiter zwei bis drei Jahre lang dasselbe Kind. Kürzere Zeitfenster seien wenig sinnvoll, schließlich muss sich das Duo aufeinander einstellen, sich aneinander gewöhnen, miteinander auskommen, sagt Koordinatorin Cornelia Scharnagl. Und längere Begleitphasen auch nicht wirklich. "Wir wünschen uns, dass die Kinder nach ein paar Jahren fit sind, allein die Schule zu meistern." Und das gelinge immer wieder gut. Ganz selten komme es vor, dass jemand die ganze Schulzeit über begleitet werde, sagt Scharnagl, berichtet dann aber nicht ohne Stolz von einem Jungen, der von der ersten Klasse Förderschule bis zur Mittleren Reife an der Realschule jemanden von der Awo an seiner Seite hatte. "Das ist die absolute Ausnahme." Die Schulen schätzen nach den Worten von Scharnagl die Schulbegleiter als verlässliche Kooperationspartner für die Bildung von Kindern und Jugendlichen mit besonderem Betreuungsbedarf. "Unser Ziel ist es, durch professionelle Unterstützungsangebote, den Kindern entsprechend ihrer Persönlichkeit und ihrer Begabungen den Weg zu einer wirklichen Teilhabe im schulischen Kontext zu ebnen."

Wann ein Kind einen Begleiter bekommt, ist an verschiedene Kriterien geknüpft: So muss die Schule den Bedarf feststellen und es braucht das Gutachten eines Kinder- und Jugendpsychiaters; nach der Prüfung durch das Kreisjugendamt oder den Bezirk und der Kostenübernahme machen sich die verschiedenen Träger auf die Suche nach einem geeigneten Schulbegleiter. Neben der Awo gibt es dieses Angebot auch bei anderen Wohlfahrtsverbänden im Landkreis München.

Patrick Seybold hat seine Freude daran, die Fortschritte seines Schülers zu verfolgen. Und auch die Schultage in der Klasse sind für ihn mittlerweile nicht mehr so anstrengend wie in den ersten Wochen, sagt er: "Alle haben sich aneinander gewöhnt und kommen gut miteinander aus." Noch einmal zur Schule gehen kann also durchaus Spaß machen.

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Quelle:
SZ vom 11.12.2018
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