Rückblick auf 2021:Ein fast normaler Sommer

Rückblick auf 2021: Open Air, begrenzte Zuschauerzahl, Abstand: Selbst die vorsichtigsten Spaßbremsen unter den Virologen hätten beim Konzert des Oberhachinger Kammerorchesters im Klettergarten nichts zu beanstanden gehabt.

Open Air, begrenzte Zuschauerzahl, Abstand: Selbst die vorsichtigsten Spaßbremsen unter den Virologen hätten beim Konzert des Oberhachinger Kammerorchesters im Klettergarten nichts zu beanstanden gehabt.

(Foto: Claus Schunk)

Der Kulturbetrieb ist immer wieder besonders von den Corona-Einschränkungen betroffen. Doch Mitte des Jahres gibt es plötzlich Konzerte, Theatervorstellungen und Vernissagen, als wäre alles vorbei.

Von Udo Watter, Landkreis München

Wenn der Mensch sich nach etwas sehr lange sehnt, ist es manchmal fast wie ein Schock, wenn es dann doch ein bisschen früher eintritt als gedacht. Auch so manch Veranstalterin oder Theaterchef war im Mai dieses Jahres ein wenig perplex, als nach monatelangem Kultur-Lockdown der zwar ungeliebte, aber vertraute Warte-und Schwebezustand unverhofft gestört wurde: Auf einmal sollten nach Ankündigung der bayerischen Staatsregierung Präsenz-Vorstellungen wieder möglich sein. "Wir liegen im Koma und die wecken uns", kommentierte Hannah Stegmayer, Leiterin des Bürgerhauses Pullach, augenzwinkernd. Sie war dann eine von denen, die noch vor der Sommerpause Veranstaltungen realisierte. Eine Voraussetzung fürs Öffnen war damals eine stabile Inzidenz im Landkreis (fünf Tage in Folge) unter 100. Noch besser: Bei einem stabilen Wert unter 50 sollten Testprozeduren und Impfpass-Kontrollen wegfallen.

Klingt wie aus einer anderen Zeit? Nun ja. Nicht nur etliche Mutanten sind 2020 und 21 durchs Land gegangen, auch die Zeit selbst scheint seit zwei Jahren eine andere Geschwindigkeit zu haben. Ist im Schatten der Pandemie mehr als sonst passiert? Oder weniger? War 2021 gegenüber 2020 ein Fortschritt? Gab es mal Astra Zeneca? Was würde der Weltgeist zum Zustand der Welt sagen?

Der Hunger nach ästhetischen Erfahrungen ist ungebrochen groß

In ihren besten Momenten lassen uns Kunst und Kultur ja am Weltgeist teilhaben. Sublimieren den Alltag, reißen eine Schneise in die Normalität und bringen eine höhere Wirklichkeit zum Vorschein: eine schöne Kadenz, deren Auflösung die Pforten zur Transzendenz öffnet, ein geistreiches Bonmot, das den Weltkerker sprengt, ein Gemälde, das den Betrachter fesselt. Man konnte heuer Stargeigerin Julia Fischer beim Konzert in Grünwald lauschen, der Metropoltheater-Inszenierung von "Diese Lücke, diese entsetzliche Lücke" in Pullach folgen oder eine Toastbrot-Installation der Künstlerin Alice Musiol im Ismaninger Kallmann-Museum ("Entgrenzungen") bewundern. Der Hunger auf Kultur (weniger auf Toastbrot) war ungebrochen groß und sobald es möglich war, wurde er auch im Landkreis in gewohnter Vielfalt gestillt. Hin gingen vor allem die Aficionados, die in der Kultur ästhetische Erfahrungen suchen, jenseits von Status- oder Verwertungsinteressen.

Rückblick auf 2021: Formsicher: Die Regenschirmpoeten aus Unterschleißheim gewinnen einen Tassilo-Hauptpreis.

Formsicher: Die Regenschirmpoeten aus Unterschleißheim gewinnen einen Tassilo-Hauptpreis.

(Foto: Robert Haas)

Beim Tassilo, dem SZ-Kulturpreis, geht es auch um ästhetische Erfahrungen - speziell denen, die aus lokalen und jugendlichen Quellen erstehen. Der Landkreis München stellte heuer wieder einen der Hauptpreisträger: die Regenschirm-Poeten aus Unterschleißheim, eine Gruppe junger Wortakrobaten um Leiterin Sophie Kompe, die gerne auf der Bühne performen, aber auch während des Lockdowns selbst gedrehte, poetische Kurzfilme ins Netz stellten. Beim Bandwettbewerb des KJR München-Land "Running for the Best", dessen Organisation pandemiebedingt 2020/21 so lange wie noch nie dauerte, gewann "As it Rains" aus Unterföhring. Spannende Theaterpremieren gab's auch: "Marie Curie" mit Anja Klawun in Unterföhring (Uraufführung) oder Werner Schwabs "Volksvernichtung" unter Regie von Bernd Seidel in Ottobrunn. Ebenfalls schön: Eine Open-Air-Aufführung im Juli mit dem Oberhachinger Kammerorchester und Chor im Klettergarten bei Deisenhofen. Überhaupt war der Sommer gut für Kultur unter freiem Himmel, auch in den Frühjahrs-Streaming-Hochburgen Haar, Unterschleißheim und Unterföhring war einiges geboten.

Eine hübsche Idee war es zudem, bei der Finissage zur Ausstellung "Garten Arbeiten" im Ismaninger Schlosspavillon Anfang September ein Krautessen im Park zu geben inklusive der Chance, seinen Kopf zum Krautkopf umgestalten zu lassen - eine Hommage an die lokale Spezialität: das Ismaninger Kraut. Der Leiter des Kallmann-Museums, Rasmus Kleine, der die Ausstellung organisiert hatte, blickt generell zwiespältig auf das Jahr zurück. "Insgesamt haben wir rausgeholt, was rauszuholen war", sagt er. Nach langer Pause gab es von Mai bis in den Spätherbst immerhin einige Ausstellungen. Die Werkschau mit Werken des aktuellen Kallmann-Preisträgers Chris Bierl ist jetzt freilich in den Januar verlegt worden.

Rückblick auf 2021: Finissage mit Krautessen und Face Painting: Julia Walk bemalt im Ismaninger Schlosspark das Gesicht von Julie De Kezel als Krautkopf.

Finissage mit Krautessen und Face Painting: Julia Walk bemalt im Ismaninger Schlosspark das Gesicht von Julie De Kezel als Krautkopf.

(Foto: Florian Peljak)

Hochverrat ist eine Frage des Datums, soll der Diplomat Charles-Maurice de Talleyrand gesagt haben. Auch ein Konzert oder ein Kabarettauftritt war heuer eine Frage des Datums. Philipp Weber etwa wollte am 24. November in Oberhaching gastieren. Genau von diesem Tag an galten indes kurzfristig neue, verschärfte Corona- Regeln in Bayern: 2G plus. Oberhachings Kulturamtsleiter Volker Böhm ("Ich hätte am liebsten in die Schreibtischkante gebissen"), musste die Veranstaltung verschieben.

Es war die Zeit, als im Herbst die wandelbare Welt der G-Regeln obwaltete, die sukzessive immer schärfer wurden. Vor allem die Plus-Varianten bewirkten ein Minus bei den Zuschauern. 3G plus galt bei Einführung als Quasi-Aussperrung der Ungeimpften, 2 G plus dann als Quasi-Lockdown für alle. Der Unterschied zu vergangenem Jahr ist, dass es im Herbst und in der Adventszeit noch möglich war, Live-Kultur zu erleben. Die aktuellen Booster-Regelungen heben das Plus der 2-G-plus-Regel auch wieder ein wenig auf.

Hoffnung also auch wieder fürs Kino, das ja von der Spontaneität des Besuchs und seinem zweistündigen Versprechen des unkomplizierten Eskapismus lebt. "Wir brauchen echte Perspektiven. Regeln mit Augenmaß", hat Stefan Stefanov vom Arthouse-Kinos "Capitol" in Unterschleißheim immer wieder gefordert. Er hatte heuer zwei, drei gute Monate, speziell September und Oktober, aber mit Einführung von 2 G plus Ende November wurden seine Klagen wieder lauter: "Das Kulturgut Kino ist in Lebensgefahr." Nun, das "Capitol" lebt noch und darf weiter auf das Publikum, vor allem seine Stammgäste, bauen.

Überhaupt dürfte die Angst, manche Kultur-Interessierte könnten sich durch Live-Streaming, Home-Kino und Couch-Kartoffel-Dasein von der Präsenz-Kulturerfahrung entwöhnen, übertrieben gewesen sein. "Es gibt einen Hunger auf Kultur und viele sagen uns: Haltet durch!", so Florian Nagel vom Bürgerhaus Unterföhring. Seine Kollegin Barbara-Schulte-Rief fasste es im Juni zusammen: "Nach über sechs Monaten Schließzeit wird das Bürgerhaus wieder ein Ort der Begegnung und der Gemeinschaft, ein Ort, wo Theatererlebnisse abseits des Alltäglichen geteilt werden können."

Rückblick auf 2021: Rote Rosen von Pierre (Johannes Schön) für Marie Curie (Anja Klawun) in Unterföhring.

Rote Rosen von Pierre (Johannes Schön) für Marie Curie (Anja Klawun) in Unterföhring.

(Foto: Florian Peljak)

Ähnlich sieht es Kleine, der vor allem den Austausch und die befruchtende Atmosphäre, die Gespräche mit Besuchern und Künstlern, die im Lockdown eben nicht möglich sind, schätzt: "Das, was ein Museum lebendig macht." Dass ausgerechnet Kulturhäuser immer wieder besonders schnell unter Corona-Einschränkungen durch die Politik litten - obwohl sie mit guten Hygiene-Konzepten überzeugten und nicht als Hotspots auffielen - ärgerte viele Veranstalter. Unterkriegen lassen galt dennoch nicht. "Wir bleiben unruhig", erklärt Matthias Riedel-Rüppel, der Chef des Kleinen Theaters Haar. "Wir haben uns seit März 2020 dem kulturellen Ausverkauf entgegengestellt und werden uns darum bemühen, dieses auch in Zukunft zu tun." Bei aller Anstrengung: Für Angestellte im Kulturbetrieb ist es natürlich auch im zweiten Jahr der Pandemie leichter als für freie Künstler und Techniker. So schöne Folgen die mit Corona einhergehende Entschleunigung zeitigen kann, so sehr ist sie auch als erzwungener Einbruch ins Zeit-Kontinuum einer Konzert-Tournee oder Kultursaison mit finanziellen Dauereinbußen eine existenzielle Belastung. Manche können sich keine Entschleunigung leisten.

Ja, die Zeit. Sie ist unzuverlässiger geworden. Schwerer greifbar. Perspektiven? Etliche Kulturreferentinnen und Theaterchefs mussten im Spätherbst auch wieder ihre mutig zusammengestellten Programme mit der neuen Realität einer Corona-Dynamik konfrontieren, vieles wieder absagen, verschieben oder unter erschwerten Bedingungen veranstalten. "Vielleicht sind wir im Frühjahr drüber hinweg", sagt Unterföhrings Kulturamtsleiterin Barbara Schulte-Rief.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: