Awo-Kitas hinterfragen Rollenbilder:Von wegen starke Jungs

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In der Mäuseburg wird Vielfalt großgeschrieben. Das zeigen schon die bunten Figuren am Zaun. (Foto: Sebastian Gabriel)

Ein Modellprojekt der Arbeiterwohlfahrt konfrontiert die Mitarbeiter von Kitas in Pullach, Taufkirchen und Unterföhring mit ihren eigenen Vorurteilen. Ziel ist unter anderem, Rollenklischees zu durchbrechen.

Von Irmengard Gnau, Pullach

Die letzte Pappfigur ist ausgeschnitten, das Basteln ist für heute vorbei. Nun geht es ans Aufräumen. Wer hilft mit, die Bank in die Garage der Kita zu räumen? "Ich brauche ein paar starke Jungs, die mir tragen helfen" - das könnte die angehende Erzieherin Ramona Strauß jetzt sagen. Oder eben: "Ich brauche ein paar starke Kinder." Denn warum sollten nur Jungs etwas tragen können oder wollen?

Im Kindergartenalter sind die Geschlechter gleich stark, auch das wäre also kein Argument. Warum man trotzdem vielleicht zuerst an die "starken Jungs" denkt? Prägungen, Stereotype, eingefahrene Sprachgewohnheiten, die Erwachsene oft vielleicht unbewusst gebrauchen. Und damit, ebenso unbemerkt, die Vorstellungen von Kindern prägen können. Sich das bewusst zu machen und im Zweifelsfall zu verändern, das versuchen gerade die 18 Mitarbeiter der "Mäuseburg" in Pullach.

Die Mäuseburg ist eine von acht Kitas der Arbeiterwohlfahrt (Awo) Oberbayern, die sich an einem Pilotprojekt mit dem etwas sperrigen Namen "Kivobe" beteiligt. Auch aus Taufkirchen und Unterföhring sind Kitas dabei. "Kivobe" steht als Abkürzung für "Kindern vorurteilsbewusst begegnen". Und genau darum geht es: Die Pädagoginnen und Pädagogen in den Kitas sollen sich ihrer eigenen Vorurteile bewusst werden. Das bezieht sich nicht nur auf klischeehafte Geschlechterrollen, sondern ebenso auf die stereotype Einschätzung eines Menschen wegen seiner Hautfarbe, seiner Herkunft, seines Aussehens, seiner Religion oder seines sozialen Status. Vor einer Vor-Beurteilung anderer Menschen sind auch die Mitarbeiter in Kitas und andere Pädagogen nicht gefeit, betont die Awo; jeder Mensch ist geprägt durch seine persönlichen Lebenserfahrungen und gesellschaftliche Umgebung.

Doch sich ebendiese Vorurteile bewusst zu machen, ermögliche es, ihnen entgegenzuwirken - und dies dann auch an die Kinder weiterzugeben. "Wenn ich Kindern einen offenen Blick auf die Welt mitgeben will, muss ich selbst auch so sein", sagt Sarah Drewek, die Leiterin der Mäuseburg. Wer bereits als kleines Kind diskriminierende Wertungen aus seiner Umwelt wahrnimmt, nimmt diese leicht mit in sein Selbstbild und die Vorstellungen über andere Menschen.

Die Kinder entscheiden mit

Angesprochen habe das Projekt sie gleich, erzählt Drewek. Das Mitarbeiterteam in Pullach ist bunt gemischt, sowohl vom Alter her als auch vom persönlichen sprachlichen und kulturellen Hintergrund, Kinder aus verschiedenen Nationalitäten besuchen die Kita in Pullach. Pädagogisch verfolgt man ein offenes Konzept und bemüht sich schon seit Jahren um Partizipation, das heißt, die Kinder können mitentscheiden, was sie tun wollen. Gute Voraussetzungen, um sich den eigenen Vorurteilen zu stellen, fand Drewek.

Im Kitaalltag bedeutet das zum Beispiel, jedes Kind immer mit seinem Namen zu bezeichnen, auch wenn man über es spricht, ebenso wie Eltern und Kollegen nicht "die sächsische Familie" oder die mit dem ausländischen Abschluss sind, sondern eben die Hubers oder die Kollegin Maria. Auch wenn Kinder nicht bestimmten Rollenmodellen entsprechend auftreten, ein Junge zum Beispiel gern einen Rock anziehen möchte. "Sätze wie ,Naja, Jungs in Mädchenkleidung...?' sollte man aus seinem Vokabular streichen", sagt Drewek. Ideen anderer versucht sie, nicht abwertend zu kommentieren. Das ist in der Summe gar nicht so leicht durchzuhalten, wie sie und ihre Kollegen festgestellt haben. "Manchmal ist es tierisch anstrengend", erzählt Drewek und lacht. Es braucht Mut und Offenheit, sich selbst zu reflektieren - und den Willen, Gewohnheiten zu verändern.

Von den Kindern gemalte Bilder. (Foto: Sebastian Gabriel)

Anstoß zu dem Projekt, das vom Europäischen Sozialfonds und dem Bundessozialministerium gefördert wird, sei die Auseinandersetzung der Awo mit der Frage gewesen, wie sie allen Kindern und ihren Familien gerecht werden kann, erklärt Sabina Smajic. Die Debatte um die ankommenden Flüchtlingsfamilien hat diese Auseinandersetzung zusätzlich verstärkt. Smajic ist bei der Awo Oberbayern als Referentin für Kivobe zuständig. Das Reflektieren der eigenen Einstellungen, Vorurteile und des eigenen Handelns ist dabei zentral, sagt Smajic - und ein aktuelles Thema, das für jeden bedeutsam ist: "Viele Menschen sind sich gar nicht bewusst, wie sie mit sich selbst umgehen und welche Vorbehalte und Vorurteile sie haben. Aber wer sich selbst nicht kennt und schätzt, tut sich schwer, andere wertschätzend zu behandeln und ihnen offen zu begegnen."

Typische Frisuren für Mädchen und Buben

Die Projektleiter auf Awo-Seite und die Mitarbeiter in den Pilotkitas hinterfragen nicht nur ihre eigenen Einstellungen, sondern auch Klischees und Rollenbilder, die zum Beispiel in Kinderbüchern oder durch Spielzeug vermittelt werden. Das geht von der angeblich typischen Frisur, die ein Mädchen oder Junge zu tragen hat, über die von vielen Spielzeugherstellern forcierte Farbtrennung in rosa und hellblau. In der Mäuseburg gibt es stattdessen vor allem Material zum Basteln oder Bauen. Ramona Strauß, Praktikantin im Anerkennungsjahr in der Mäuseburg, hat sich in ihrer Facharbeit mit genderspezifischen Vorurteilen bei Kindern beschäftigt und festgestellt, dass diese meistens von den Eltern kommen. Von allein gingen Kinder meist sehr offen auf andere zu. "Für Kinder sind andere Kinder einfach auch Kinder", sagt sie.

Die Pilotphase für das Projekt Kivobe läuft noch bis Februar 2020. Mäuseburg-Leiterin Drewek hat für sich als erstes Ziel ausgemacht, dass jedes Kind sich gern mag, so wie es ist: "Wir wollen Vielfalt leben und anerkennen." Erziehungswissenschaftlerin Smajic will den Kitas keine festen Zielvorgaben machen, jede Einrichtung soll individuell sehen, was sie auf Basis der eigenen Erfahrungen und Reflexionen verändern möchte. Langfristig aber soll das Prinzip nach dem Ende des Projekts auch für andere Awo-Einrichtungen nutzbar gemacht werden.

© SZ vom 10.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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