Repertoire von mehr als 100 Sagen:Vom Zauber des Erzählens

Als Physiker muss Matthias Stürzer Naturgesetze und Formeln beherrschen. So richtig in seinem Element ist er aber, wenn er Geschichten längst vergangener Tagen vorträgt.

Von Franziska Gerlach

Es ist kalt an diesem Nachmittag, eisiger Wind zieht um St. Peter und Paul und wühlt in seinen grauen Locken. Matthias Stürzer, 50, stört die Kälte aber nicht. Und zwar nicht nur wegen des warmen Lodenmantels, den er trägt. Sondern vor allem, weil es in seiner Vorstellung Frühsommer ist.

Wenn Stürzer Sagen erzählt, wie eben jene von der Frau Uta in Trudering, dann ziehen die Motive vor seinem inneren Auge vorbei. Er sieht die gütige Edeldame mit ihrem Lebensmittelkorb durch ein Ährenfeld bei Trudering stapfen, direkt auf die Burg zu, die plötzlich vor ihr im Erdboden versinkt - und ihren gierigen Ehemann, den Ritter Kuno, mitreißt. "Den interessierte nichts als Geld", sagt Stürzer. Ein Geizkragen, und ein grausamer noch dazu. Stürzer faltet die Hände, setzt den Gesichtsausdruck des Wissenden auf, mit einer Atempause staut er noch etwas Spannung auf. Dann nimmt die Erzählung gehörig Fahrt auf - bis hin zum Todeskrater vor dem Truderinger Bahnhof, in dem vor 22 Jahren ein städtischer Bus versank und drei Menschen in den Tod riss.

Mehr als 100 Geschichten, Märchen, Sagen und Anekdoten umfasst das Repertoire des Physikers, der in seiner Freizeit zu Matthias, dem Erzähler, wird - während Stadtführungen, bei Geburtstagen, auf Mittelalter- oder Adventsmärkten oder in Kindergärten zum Beispiel: "Geschichte und Geschichten haben mich schon immer interessiert." Mittlerweile lebt er in Planegg, aufgewachsen ist er aber in Haar. Doch da es dort seinerzeit nichts Spannendes zu tun gab, stromerte er nachmittags immer in die Bibliothek nach Trudering und deckte sich mit Büchern über die alten Ägypter und andere Völker ein. Schon zu Schulzeiten stößt er auf die Sage von der Frau Uta, die er bis heute besonders gern erzählt: "Wegen des Gänsehauteffektes bei den Erwachsenen, wenn es schließlich um das Busunglück geht."

Ob es eine Verbindung zwischen den Geschichten gibt, sei erst mal dahingestellt. Sicher aber ist: Frau Uta hat ganz deutliche Spuren in Trudering hinterlassen. Die Bezeichnung "Utaische Brüche" zum Beispiel, wie besagte Wiese mit der einstigen Burg im Grundbuch heißt, die kämen sicher nicht von ungefähr, erläutert Stürzer: "Sagen haben typischerweise einen klar definierten Ort, bestenfalls auch noch eine fest umrissene Zeit, in der sie spielen." Im Fall der Frau-Uta-Sage gehören dazu eine Burg, die geknechteten Bauern und natürlich auch die Almosen, die Frau Uta verteilte - für Stürzer klare Indizien für das Mittelalter.

Repertoire von mehr als 100 Sagen: Matthias Stürzer, auf den Stufen von St. Peter und Paul in Trudering, erzählt immer wieder gerne die Geschichte von Frau Uta, an die heute ein Brunnen erinnert.

Matthias Stürzer, auf den Stufen von St. Peter und Paul in Trudering, erzählt immer wieder gerne die Geschichte von Frau Uta, an die heute ein Brunnen erinnert.

(Foto: Catherina Hess)

Seine Karriere als Erzähler reicht freilich nicht so weit zurück. Zwölf Jahre ist es jetzt her, dass Stürzers Tochter, damals sieben Jahre alt, sich Märchen vom Papa wünschte. Und weil der Winter damals gar so trist und trübe war, versammelte Stürzer alle Kinder aus der Nachbarschaft zu einer Erzählstunde zwischen Kissen und Kuscheltieren auf dem Boden. "Und draußen im Gang standen dann 30 Paar Stiefelchen." Und tatsächlich: Wer sich mit Matthias Stürzer in einer gemütlichen Truderinger Bäckerei vor der Kälte versteckt, der sieht mit einem Mal wirklich eine Reihe von rosa und hellblauen, gestreiften und geblümten Kinderstiefeln. Es ist ein Detail, das Stürzer nur beiläufig erwähnt hat, trotzdem ist es da. Mitsamt der Frage: Wie funktioniert das eigentlich, das Erzählen?

Stürzer ist Autodidakt. Aber er schafft es, ein Detail zum Bild und dieses Bild wiederum zu einem Film zu verdichten, den das Kopfkino sozusagen auf Breitwand abspielt. Vor anderen zu reden, das sei ihm schon in der Schule leicht gefallen. Ohne größeres Aufhebens habe er Referate über Mineralien gehalten, ohne zu wissen, was ein Referat überhaupt ist. Das Erzählen ist sein Ding, egal ob Erwachsene oder Kinder ihm lauschen. Denn anders als beim Vorlesen, wenn Letztere etwa mucksmäuschenstill sind und ihm im besten Fall an den Lippen hängen, gehen die Jüngeren beim Erzählen richtig mit, lassen die kleinen Fäustchen durch die Luft fliegen und reißen die Augen auf. "Da ist ein Austausch da", sagt Matthias Stürzer.

Allerdings: "Es war einmal" - dieser verheißungsvolle Einstieg in eine zurückliegende Handlung, dieser Satz sei dann doch dem Märchen vorbehalten. Bei der Sage dagegen gilt es, hauszuhalten mit blumigen Adjektiven und wilden Ausschmückungen. Andernfalls, sagt Stürzer, nehme man dem Zuhörer die Chance, sich in der Fantasie Protagonisten und Kulisse zu erschaffen. Und das sei doch gerade das Schöne am Zuhören - eben selbst zu entscheiden, ob die Frau Uta denn nun in einem Kleid aus blauem Samt durch die Truderinger Felder schreitet, oder vielleicht doch in einem rotem mit goldener Borte. Und wenn Stürzer selbst sich seine Sagen und Märchen auch in Motiven merkt, so sagt er doch: "Ich werde der Frau Uta kein schönes Gesicht und keine Sommersprossen andichten." Erzählen: Das ist ganz offenbar weniger die Kunst, Worte aneinander zu reihen, die sich möglichst erlesen anhören. Es ist vielmehr die Kunst, den Zuhörer in eine längst vergangene Zeit zu verfrachten. Und an einen Ort, den er womöglich sogar kennt, aber eben so, wie er heute aussieht. Überhaupt erzähle es sich am besten dort, wo sich die Sage zugetragen habe. Wenn der Zuhörer also auf jenem Stückchen Wiese steht, auf dem auch die Frau Uta gestanden haben könnte. Dann kann die Erzählung ihren Zauber am besten entfalten.

Repertoire von mehr als 100 Sagen: Der sagenumwobene Utabrunnen (zur Sage siehe auch Kasten unten).

Der sagenumwobene Utabrunnen (zur Sage siehe auch Kasten unten).

(Foto: Catherina Hess)

Das führt zu der Frage, was zuerst da war - die Sage oder die Geschichtsforschung. Stürzer muss da nicht lange überlegen - die Sage natürlich. Als historische Quelle tauge diese nämlich nicht, sagt er und schlägt den Bogen zu Homer und Troja. Sie sei kein Beweis, höchstens ein Hinweis auf die Ereignisse: "Und mit viel Glück findet die Geschichtsforschung oder die Archäologie dann eine Bestätigung für die Sage." Historisches Wissen erfordert das Erzählen aber dennoch, und hat Stürzer dieses nicht parat, befragt er schon mal das Internet. Zu einem Abenteuer wird die Sage aber wohl erst durch die Mimik und Gestik, mit der er seine Erzählungen begleitet. Stürzer legt dann die Stirn in Falten oder schimpft mit seinen badeseeblauen Augen. Und wenn der Ritter Kuno zornig wird, sein Schwert zieht und seiner Frau Uta den Kirchgang verbieten will, dann kann auch Stützer nicht mehr "stad" halten, wie er sagt.

Nur ganz am Ende, wenn die Erzählung Kurs nimmt auf die Ereignisse um den Stadtbus der Linie 192, der am 20. September 1994 am Truderinger Bahnhof urplötzlich in den Asphalt einbrach, wird er wieder ruhig. Drei Menschen wurden damals vom Kies verschluckt, 34 teils schwer verletzt. Geologen fanden anschließend heraus, dass Risse im Untergrund zu der Katastrophe geführt hatten.

Frau Uta und der schreckliche Kuno können also sehr wahrscheinlich nichts für dieses Unglück. Aber wer weiß: Ein Körnchen Wahrheit schlummert ja in jeder Sage.

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