Pullach:Zeit des Fuchses, Zeit der Schafe

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Märchenerzähler Jörg Baesecke über Lüge und Solidarität in der Pandemie

Interview von Claudia Wessel, Pullach

Die Zeit des Fuchses, also der List und des Verrats, die Zeit der Schwerter, also die von Krieg und Gewalt, und die Zeit der Schafe, somit die von Großzügigkeit und Freigiebigkeit - diese Zeiten kommen in Jörg Baeseckes Lieblingsmärchen "Die weise Schlange" vor. Die Geschichte von der Wirkung des Zeitgeistes auf den Menschen erzählt der Pullacher nunmehr seit 20 Jahren. Bei einer kleinen Privatvorführung, begleitet von Bildern in seinem selbst gemachten zur Geschichte passenden Unikatbuch, sprach die SZ im Pullacher Café Dolce mit dem Künstler über den derzeitigen Zeitgeist.

SZ: In welchen Zeiten leben wir gerade?

Jörg Baesecke: Wohl auch in Zeiten des Fuchses, denn da passen Verlogenheit und Demagogie gut hinein. Wo man zum Beispiel in der Politik ungestraft lügen darf und damit sogar noch gewählt wird. Diese ganzen Verdreher und Verzerrer, die plötzlich an die Macht streben und Anhänger finden. Dafür muss man nicht weit reisen, auch hier im Pullacher Wahlkampf haben wir das erlebt.

Woher kommt die Verlogenheit?

Da sind wir schon beim Thema Zeitgeist. In allen Zeiten wurden Erklärungen dafür gesucht. Mal heißt es, es sei die Konstellation der Gestirne, mal wird die Aktivität der Sonnenflecken dafür verantwortlich gemacht, dann ist die Industrialisierung daran schuld. Oder sogar ein Vulkanausbruch! Tatsächlich, als 1815 bei Java der Vulkan Tambora ausgebrochen ist, wurde es immer kälter, global, ein Winter, der nicht aufhören wollte. Was die Menschen nachhaltig beeinflusst hat.

Manche Stimmungen und Gewohnheiten der Menschen kommen also auch einfach vom Wetter?

Ja, natürlich. Auf jeden Fall von äußeren Lebensbedingungen, an die die Menschen sich anpassen müssen.

Viele Politiker behaupten, die Corona-Krise sei eine Zeit der Solidarität.

Ja, Solidarität ist in diesen Zeiten gefordert. Meine Frau und ich haben sie auch wirklich erfahren dürfen. Als während des Lockdowns für uns eine Absage nach der anderen kam und wir nichts mehr zu tun hatten, kamen wir auf die Idee, eine Münchner Sage aus unserem Repertoire zu filmen, und das, wo wir noch nie zuvor gefilmt hatten. Das Thema der Geschichte passte zur Krise, denn es ging um den Schäfflertanz und die Überwindung der Pest. Wir hatten damit unerwarteten Erfolg und viele Menschen spendeten für uns. Einmal etwa schenkte uns eine Pullacherin einen Fresskorb, andere schrieben uns, sie möchten uns quasi Eintrittskarten bezahlen, für die gefilmte Geschichte auf unserer Homepage.

Eine Krise kann also das Gute im Menschen hervorbringen?

Not fördert einerseits die Solidarität, aber bei vielen auch die Wolfsnatur. Jetzt spricht zwar keiner mehr von Klopapier, weil es auch ein bisschen peinlich ist, aber die Einkaufsschlachten waren ein Beispiel für den Effekt, nur an sich und quasi das eigene Überleben zu denken.

Manchmal nützt Solidarität alleine nichts mehr, etwa wenn jetzt Künstler und andere Selbständige ihre Existenz verlieren.

All die Nothilfen sind ja auch ein Ausdruck von Solidarität. Wenn etwa die Gemeinde Pullach draufzahlt, weil Kulturveranstaltungen mit weniger Zuschauern wieder stattfinden, ist das auch ein Akt von Solidarität.

Aber Sie haben selbst gesagt, dass das nächste Jahr noch dunkel ist, der Kalender leer und keine Auftrittsanfragen in Sicht.

Jetzt geht es darum - jeder Freiberufler wird das kennen - seine seelischen Widerstandskräfte zu mobilisieren. Meine Frau und ich haben im Frühjahr mit unseren kleinen Filmen - insgesamt zwölf - so viel Wunderbares erlebt. Warum soll nicht so etwas wieder kommen? Warum soll sich der Zeitgeist nicht wieder zum Besseren wandeln? Vielleicht bin ich naiv, aber wäre es nicht schön, wenn sich Gemeinschaftlichkeit, Rücksicht, also Respekt und Wahrhaftigkeit, durchsetzen würden?

Vorbehaltlich der aktuellen Corona-Bestimmungen dürfen Hedwig Rost und Jörg Baesecke mit ihrer "Kleinsten Bühne der Welt" wieder Märchen erzählen am Donnerstag, 5. November, von 16.30 Uhr an im Pullacher Bürgerhaus. Anmeldung und weitere Information unter www.buergerhaus-pullach.de.

© SZ vom 29.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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