Zweiter Weltkrieg:Aufstand gegen die Agonie

Rupprecht Gerngroß, 1945

Um sechs Uhr morgens verkündete Rupprecht Gerngross den Umsturz im Radio. Diese Aufnahme des Hauptmanns ist wohl im Nachhinein aufgenommen worden.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Es war der Versuch, weiteres Leid zu verhindern: Die Widerstandsgruppe "Freiheitsaktion Bayern" um Hauptmann Gerngross wollte kurz vor Kriegsende das Nazi-Regime stürzen. Doch dann stürmten die Aktivisten das falsche Haus.

Von Konstantin Kaip, Pullach

In den Morgenstunden des 28. April 1945 konnte man in Teilen Bayerns überraschende Töne im Radio hören: "Die Stunde der Freiheit hat endlich geschlagen. Die Kapitulation steht unmittelbar bevor." Es waren die Widerstandskämpfer der "Freiheitsaktion Bayern", die von besetzten Radiosendern in Freimann und Ismaning proklamierten, sie hätten die Regierungsgewalt an sich gerissen, und dazu aufriefen, nationalsozialistische Amtsinhaber zu verhaften. Doch ihre Aktion war in Wahrheit gescheitert. Kurz darauf hörte man im Radio das Dementi der alten Machthaber: Der Münchner Oberbürgermeister Karl Fiehler und Gauleiter Paul Giesler verkündeten, der Aufstand der "Landesverräter" sei niedergeschlagen.

Die "Freiheitsaktion Bayern", kurz FAB, war der Versuch, einem vom Krieg geplagten Volk kurz vor dem unvermeidlichen Einmarsch der Alliierten weiteres Leid zu ersparen. Ihre Protagonisten, größtenteils jüngere Offiziere aus dem Dolmetscherwesen, wollten die nationalsozialistische Führung stürzen und die Kapitulation verhandeln. Als Zeitpunkt für ihren Streich hatten sie die Nacht auf den 28. April gewählt, als die US-Truppen im Westen bereits bei Augsburg standen und im Norden die Donau überschritten hatten.

Die Aktivisten wollten unter anderem in Pullach die Befehlshaber der Wehrmacht und in München OB Fiehler und Gauleiter Giesler festnehmen sowie in Kempfenhausen den als Regimekritiker bekannten früheren Reichsstatthalter Franz Ritter von Epp für ihre Aktion gewinnen. Das aber gelang ihnen nicht: Epp weigerte sich, am Aufstand teilzunehmen, und die "Fasanenjagd", wie der Codename der Aktion nach den wegen ihrer prunkvollen Uniformen beim Volk als "Goldfasanen" bezeichneten Nazigrößen lautete, brachte nicht die erhoffte Beute.

Konkrete Pläne für eine Putsch

Warum, erzählte die Historikerin Veronika Diem vergangene Woche im Pullacher Bürgerhaus. Das Geschichtsforum Pullach hatte der FAB einen Abend gewidmet und mit Diem eine Expertin gewonnen: Ihre auch als Buch erhältliche Dissertation über die "Freiheitsaktion Bayern" ist die einzige wissenschaftliche Einzeldarstellung über den Aufstand und wurde 2013 mit dem Dorothee-Fliess-Preis für Widerstandsforschung ausgezeichnet.

Laut Diem gab es zwölf Protagonisten des Aufstands, aus fünf unabhängigen Widerstandsgruppen. Ende März schlossen sie sich zur "Freiheitsaktion Bayern" zusammen und fassten konkrete Pläne für einen Putsch, den sie in der Nacht zum 28. April in acht unterschiedlich großen Gruppen umsetzen wollten. Eine Truppe unter der Leitung von Oberleutnant Hans Betz fuhr um ein Uhr nachts von der Münchner Türkenkaserne nach Pullach, wo das Oberkommando West der Wehrmacht untergebracht war. Oberbefehlshaber Albert Kesselring war bekanntermaßen unterwegs nach Innsbruck, der Auftrag lautete, seinen Stellvertreter, General Siegfried Westphal, in der Bormannsiedlung an der Heilmannstraße zu ergreifen.

Eine Stunde brauchten die beiden Lkw nach Pullach. Dort machte der Stoßtrupp allerdings einen Fehler: Die ortsunkundigen Aufständischen stürmten die Stabsleiter-Villa und fanden dort nur sieben Angehörige einer SS-Kompanie vor, die sie festnahmen. Westphal und sein Stab aber waren im Bunker des Führerhauptquartiers auf der anderen Seite der Straße.

Er sei in der Nacht des 28. April spät ins Bett gekommen, schrieb Westphal später in seinen Erinnerungen. Um 7 Uhr habe ihn Generaloberst Jodl angerufen und von dem Aufstandsversuch eines Hauptmanns Gerngross vom Münchner Wehrkreiskommando VII berichtet. "Viele Jahre später las ich, dass Hauptmann Gerngross Befehl gegeben hatte, meiner lebendig oder tot habhaft zu werden", schreibt Westphal. "Das Ganze war nicht mehr als eine Arabeske im Irrsinn dieser Zeit."

Die erste Besetzung eines offiziellen Senders

Auch bei den Pullachern blieb die Aktion unbemerkt. Gemeindearchivar Erwin Deprosse, der einzige Zeitzeuge auf dem Podium im Bürgerhaus, sagte, er habe nur von einem Freund über die Aufrufe im Radio gehört. Deprosse zeigte sich verwundert, dass die Soldaten von der Existenz des Führerbunkers, in dem "praktisch der ganze Stab auf dem Präsentierteller war", nichts wussten. In Pullach sei der Bunker Hagen selbst bei Schülern bekannt gewesen.

Die Historikerin Susanne Meinl, Autorin des Buches "Geheimobjekt Pullach", schrieb das Missgeschick dem "schlechten Nachrichtendienst" der FAB zu, eine ironische Randnotiz angesichts der späteren Ansiedlung des BND auf dem Gelände. Eine andere Erklärung konnte auch Renate Schirmer, Tochter des an der Aktion beteiligten Widerstandskämpfers Anton Kopp, nicht geben. Ihr Vater habe nie mit ihr über die Ereignisse der Nacht gesprochen, sagte sie den 40 Zuhörern im Saal.

Zweiter Weltkrieg: In der Bormann-Villa fanden die Aktivisten nur sieben SS-Leute.

In der Bormann-Villa fanden die Aktivisten nur sieben SS-Leute.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Verbrieft ist, dass die Aktivisten mit ihren Gefangenen zurück nach München fuhren und das Rathaus stürmten, über dem sie die weiß-blaue Fahne hissten. Festnehmen konnten sie dort nur den SS-Brigadeführer Christian Weber. Der veranlasste später die Hinrichtung des Kommunalbeamten Hans Scharrer, der die Aufständischen ins Rathaus gelassen hatte. Die Aufständischen versammelten sich schließlich im Freimanner Radiosender, von dem aus sie die ersten Aufrufe sendeten. "Es war das erste Mal in der Rundfunkgeschichte, dass ein offizieller Sender besetzt wurde", erklärte Diem. Später gelang es, in Ismaning einen Sender mit größerer Reichweite zu stürmen. Um etwa zehn Uhr kam dann das Dementi des Gauleiters, eine Stunde später flohen die Aktivisten und ließen alle Gefangenen frei.

Die Reaktionen auf die Aktion reichten laut Diem von "Misstrauen bis Begeisterung". Sie konnte insgesamt 78 Folgeaktionen dokumentieren, von denen 50 glimpflich verliefen und 20 eskalierten - am tragischsten verlief der Umsturzversuch in Penzberg, der mit 16 Hinrichtungen endete. Diem hat bei allen Eskalationen ein ähnliches Muster entdeckt: Stets hätten einheimische Linientreue auswärtige SS-Kommandos zu den Aufständischen geführt. Ihre Motive, so kurz vor Kriegsende mit solcher Härte gegen Mitbürger vorzugehen, blieben der Historikerin ein Rätsel. "Vielleicht haben Sie ja eine Idee", fragte sie ins Publikum.

Mit ihrer Forschung ändert Diem die Wahrnehmung der "Freiheitsaktion Bayern", die oft auf die zentrale Figur von Hauptmann Rupprecht Gerngross reduziert wird: Bislang sei man von 400 Beteiligten und 50 Todesopfern ausgegangen, sagte sie. Dabei seien allein an den nächtlichen Aktionen 440 Soldaten beteiligt gewesen. Insgesamt kommt Diem auf mehr als 1400 Aktive. Sie alle seien ein "unkalkulierbares Risiko" eingegangen und hätten großen Mut bewiesen. 57 von ihnen bezahlten dafür mit dem Leben. Die Frage, ob die FAB Einfluss auf den Kriegsverlauf hatte, sei zwar eher zu verneinen. Die Resonanz der Aktion zeige jedoch "das Bedürfnis der Menschen, zu diesem Zeitpunkt", sagte Diem: "Sie wollten etwas tun, um die Agonie des Wartens auf den unvermeidlichen Ausgang zu beenden."

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