Süddeutsche Zeitung

Premiere:Wo die Liebe hinfällt

In Edward Albees "Die Ziege oder Wer ist Sylvia" hat ein Mann eine Affäre mit einem Tier. Regisseur Bernd Seidel inszeniert in Ottobrunn aber kein Skandalstück, sondern thematisiert essenzielle Fragen der Grenzüberschreitung

Von Udo Watter, Ottobrunn/Unterhaching

Menschen, welche die grenzenlosen Segnungen der kapitalistischen Weltordnung in Zweifel ziehen, untermauern ihre kritische Haltung gerne mit einem Bonmot von Bert Brecht: "Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?" Ein Satz, der so simpel wie genial die bürgerlich-konventionelle Perspektive unterläuft und eventuell neue Denkprozesse anregt. Übertragen auf das Stück "Die Ziege oder Wer ist Sylvia?" von Edward Albee, das der Regisseur Bernd Seidel mit seinem Ensemble am Samstag im Ottobrunner Wolf-Ferrari-Haus zeigt, könnte man fragen: Was ist das Vögeln einer Ziege gegenüber dem Schlachten einer Ziege? Ja richtig, die 2002 mit dem Tony Award (wichtigster Theaterpreis der USA) ausgezeichnete Tragikomödie des in Virginia geborenen Albee thematisiert die erotische Beziehung eines Menschen zu einem Tier, dessen vornehmste Aufgabe eigentlich darin bestehen sollte, Milch für würzig-milden Käse zu liefern.

Für den Protagonisten Martin Gray, einen Stararchitekten auf der Höhe seines Ruhmes, ist die Ziege freilich weit mehr, er schmilzt dahin, als sie ihm in die Augen blickt und ihren Kopf in seine Hände legt. Er nennt sie Sylvia, fängt eine Affäre mit ihr an, und setzt so seine familiäre, gesellschaftliche wie berufliche Zukunft aufs Spiel. Freilich, so anstößig das zunächst klingen mag - und Martin muss sich entsprechend im Plot nicht nur einmal die Bezeichnung "Ziegenficker" gefallen lassen - es geht eben nicht um "platte dekadente Entgleisungen", wie Seidel erklärt, sondern "darum, was Liebe aus uns macht". Und um die Frage: "Wie weit lasse ich in einer zunehmend bigotten und reaktionären Gesellschaft Grenzüberschreitungen zu?" Für Seidel, der auch künstlerischer Berater am Wolf-Ferrari-Haus ist, und von dem zahlreiche Inszenierungen in Ottobrunn Premiere gefeiert haben, ist diese Akzentuierung wichtig. Leichte oder gefällige Stoffe hat der mittlerweile in Andalusien lebende Regisseur ja nie gemacht, und auch die ein oder andere Kontroverse erlebt, aber diesmal scheint er mit der Stückauswahl einen Nerv getroffen zu haben. Jedenfalls beschleicht ihn aufgrund auffälliger Abwanderungs- oder Wechselbewegungen bei dem betreffenden Abo-Zweig der Verdacht, dass manch potenzieller Ottobrunner Zuseher von der vermeintlich skandalösen Thematik abgeschreckt wurde. Der 63-Jährige, der Theatermachen auch als "Bildungsauftrag" versteht, kann das schwer nachvollziehen: "Das ist ein modernes, preisgekröntes, sehr spannendes Stück". Dessen Autor Edward Albee ("Wer hat Angst vor Virginia Woolf?") ein bedeutender Dramatiker des 20. Jahrhunderts ist und mehrfach mit dem Pulitzer-Preis und Tony Award ausgezeichnet wurde.

Seidel setzt mit seinem Schauspiel-Ensemble - Patrick Gabriel, Sandra Heuer, Manuel Castillo und Frank Rafael Bosse - den Schwerpunkt denn auch auf die Vermittlung der tief verstörten und angegriffenen Gefühlswelten der Figuren. Bei den Proben auf seinem Anwesen in der Nähe von Málaga entwickelt er mit seinen Schauspielern auch performative Elemente, lässt sie immer wieder mit expressiver Körperlichkeit agieren, sucht nach Wegen, sinnfällig zu choreografieren.

Es ist schön zu sehen, wie sich die Darsteller im Laufe der Tage steigern, neue Intensitäten entfalten, tiefer in die Seelenabgründe ihrer Figuren hinabtauchen. Patrick Gabriel und Sandra Heuer, dem Ottobrunner wie Unterhachinger Theaterpublikum (am 21. Oktober ist eine Vorstellung im Kubiz) durch frühere Aufführungen vertraut, schaffen als Martin und dessen Frau Stevie besonders eindringliche Dialog-Duelle. Für Heuer ist die Rolle die erste nach mehreren Jahren Bühnenabstinenz, die gebürtige Polin zeigt Stevie als Frau, die zwischen Verletzung, Sarkasmus und Stärke changiert. Gabriels Part ist ein Kraftakt, er ist permanent im Einsatz und muss die Zerrissenheit seiner Figur zeigen, ohne zu überdrehen. Für den 38-Jährigen, der zuletzt bei einigen Inszenierungen Seidels nur wichtige Nebenrollen inne hatte, freilich eine willkommene Herausforderung. Manuel Castillo, Sohn deutsch-chilenischer Eltern, hat mit Martins bestem Freund Ross, der ihn verrät, eine ambivalente Rolle, und Frank Rafael Bosse, der den schwulen Sohn Billy gibt, bringt fragile jugendliche Emotionalität ins Spiel.

"Die Ziege oder Wer ist Sylvia?", ist sicherlich kein Werk, bei dem das Thema "Sodomie" skandalträchtig eingesetzt wird. Gut tut dem Stück, dass es neben aufwühlenden Momenten etliche befreiend komische und groteske Aspekte hat. Es stellt vor allem die Frage, wie Menschen reagieren, deren heile Welt unvermittelt zusammenbricht, deren Gewissheiten kollabieren, weil die Grenzen des gesellschaftlich Anerkannten überschritten werden. Wo hört die Moral auf und wo fängt die Liebe an? Wer hat Schuld? Und: Wird die Ziege am Ende geschlachtet?

Die Premiere von "Die Ziege oder Wer ist Sylvia?" ist am Samstag, 14. Oktober, im Wolf-Ferrari-Haus, Ottobrunn, Beginn 19.30 Uhr (Tickets über Telefon 089/60808302 oder www.reservix.de). Am Samstag, 21. Oktober, gibt es eine Vorstellung im Unterhachinger Kubiz, Beginn 20 Uhr. Karten gibt es über Telefon 089/66 555 316 oder Reservix respektive MünchenTicket.

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Quelle:
SZ vom 10.10.2017
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