Süddeutsche Zeitung

Porträt:Hit oder Shit

Der Tätowierer Raul Beyer sieht sich als Handwerker und Künstler zugleich. Der Trost für viele seiner Kunden ist: Am Ende ist nichts endgültig

Von Jana Treffler, Taufkirchen

Ist das Kunst oder Körperverunstaltung, die man später bereuen wird? An Tattoos scheiden sich die Geister, für die einen ist es die Hölle, für andere der Himmel, für die das Bilder-auf-die-Haut-Tätowieren ein Termin wie die Maniküre im Nagelstudio ist.

Ausflug nach Taufkirchen. Hinter der Tür zum Hochparterre des apricotfarbenen Wohnhauses im Oberweg würde man auf den ersten Blick tatsächlich eher mit einer Maniküre rechnen, als mit dem, was Raul Beyer hier anbietet und "Dienstleistung" nennt. Mit feinen Nadeln bringt er Farben und Formen unter die Haut seiner Kunden und hat dabei ein ganz eigenes Verständnis von seinem Beruf.

Seiner Philosophie nach gibt es drei Arten von Tätowierern. Die einen setzten in endlosen Variationen die eigene Fantasie um und nennen das Ergebnis "eigenen Stil". Andere stächen nach vorgefertigten Motiven, pausten lediglich ab, "Kreativität gleich Null". Und wieder andere verstünden sich als kreative, kompetente Dienstleister des Kunden, die diesem verstehen helfen, was er eigentlich will. Einer, der des Kunden Ideen und Vorlieben quasi in Bildsprache übersetzt und greifbar macht. Als diese Art Helfer sieht sich Beyer, als Künstler und Handwerker in einem, der seinem Kunden genauso viel wie sich selbst abverlangt - er muss mitdenken.

Mehr als 6,3 Millionen Menschen in Deutschland sind tätowiert, damit hat jeder elfte Tusche unter der Haut, Tendenz steil steigend. Der Körper als Leinwand, das Innere auf der Haut - mitnichten ein Phänomen der Hipster und Prolls, die aufs Auffallen setzen. Egal ob arm oder reich, gebildet oder ungebildet, verbeamtet oder selbstständig: Zu zeigen, dass etwas unter die Haut geht, ist von jeder sozialen Klasse gewollt, der Künstler findet es genauso schick wie der Bilanzprüfer, der Punk genauso wild wie die Unternehmensberaterin. Was gemalt wird, ändert sich aber: In den Neunzigerjahren war es das Arschgeweih, dann asiatische Schriftzeichen. Anfang 2000 wird die Kommunikation auf der Haut konkret, der Spielraum für Interpretation kleiner. Gedichte, Lebensweisheiten, Liebesschwüre werden erzählt. Die Zaghaften wählen den Namen des Partners, die Auf-Nummer-sicher-Geher den Namen der Kinder. Diese Liebe bleibt.

Wie das Tattoo am Ende aussieht, darüber entscheiden gar nicht nur Motiv oder Qualität des Tattoo-Stechers. Maßgebend sind vor allem Körperform und die Muskulatur des Gestochenen. "Der Körper ist keine Leinwand. Ein Blatt ist flach, der Körper beweglich" sagt Beyer. Inspiration holt er sich auf Reisen, etwa in Hongkong. "Jeder Ort ist für mich eine Studienreise", sagt Beyer. Kiloweise Bücher habe er gewälzt, mit optischen Illusionen, Jugendstil-Bildern oder japanischer Kunst.

Alles Eindrücke, die er unter die Haut miteinfließen lässt. Sein Können hat der Autodidakt bei einem Tätowierer in Wien gelernt, heute bildet Beyer selbst aus. Dass das Tätowieren kein geschützter Beruf ist, sieht er nicht als Problem, denn "Pfuscher wird es immer geben".

Daran und auch an die Überheblichkeit vieler Tätowierer erinnert auf zynische Art der erste Name seines Studios: "Shit for Life". Als ein Zerrspiegel war der Name gedacht, für die Menschen, die innerhalb ihrer Subkultur letztlich genauso spießig seien wie der Mainstream. Nach dem Zwischenschritt "Hits for Life" bleibt heute noch "It for Life", als Rudiment des Anagramms aus "Hits" und "Shit".

Am Ende muss wohl jeder selbst entscheiden, ob das Tattoo ein "Hit for Life" ist, oder ob doch das "Shit" überwiegt. Das Trostpflaster: Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Wen das nicht überzeugt: Wegmachen lassen, geht auch. Oder man korrigiert es, so hat es Johnny Depp gemacht: Aus "Winona forever" wurde einfach "Wino forever."

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Quelle:
SZ vom 23.08.2016
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