Phänomen:Donnerwetter

Dass Gewitter an Oberhaching stets vorbeiziehen, ist am Ort Allgemeinwissen. Aber woran liegt es? An Bittgängen, dem alten Adel oder einem speziellen Kleinklima? Einige Erklärungsversuche

Von Michael Morosow, Oberhaching

Eine schwarze Wolkenfront zieht vom Westen drohend auf Oberhaching zu, Blitz und Donner kommen eilig näher, der Wind frischt auf. Schnell noch die Terrasse sturmfest machen, alle Fenster schließen, elektronische Geräte vom Netz nehmen, denn gleich wird es toben und prasseln, blitzen und donnern. Auch die Warn-App des Deutschen Wetterdienstes lässt keinen Zweifel daran, kündigt für den Raum Oberhaching schweren Sturm mit Orkanböen und Hagelschlag an. In einem solchen Moment des bevorstehenden Infernos kann man mit einem Blick Neubürger von Alteingesessenen unterscheiden. Wer jetzt hurtig Kind und Kegel in Sicherheit bringt, wohnt noch nicht sehr lange im Ort. Wer ihnen dabei in aller Seelenruhe zuschaut, wie die 97-jährige Franziska Hiebl aus dem Ortsteil Deisenhofen, der ist von hier. Seit mehr als 30 Jahren sei kein Hagelkorn mehr auf das Dach ihres Hauses gefallen, sagt sie.

Das Oberhachinger Wetterphänomen zählt im Ort zum Allgemeinwissen. Der im Jahr 2003 verstorbene Oberhachinger Pfarrer und Heimatforscher Karl Hobmair hatte sich in einer seiner Schriften dieser meteorologischen Auffälligkeit angenommen. Seine Kernaussage lautet: Von schweren Unwettern, Hagel und Überschwemmung bleibt Oberhaching stets verschont. Lässt sich Hobmairs Behauptung wissenschaftlich untermauern?

Nein, zu dieser offensichtlichen Wetterscheide gebe es keine speziellen Erkenntnisse, heißt es vom Deutschen Wetterdienst (DWD), aber vielleicht wisse Michael Utz mehr. Der Oberhachinger betreibt im Auftrag des DWD eine Wetterstation im Ortsteil Laufzorn. Mit genauen Zahlen kann er auch nicht dienen, aber seine Erfahrung sagt ihm: "Rundum ist Hagel und Wetter und bei uns ist nichts, in der Region liegt der Mais flach, in Oberhaching steht er."

Wer sich bereits intensiv mit dem Oberhachinger Wetterphänomen beschäftigt hat, ist Bürgermeister Stefan Schelle. Nicht zuletzt, weil der diplomierte Agrar-Ingenieur im Studium Agrarmeteorologie im Nebenfach studierte. Dass Petrus den Ort vor Hagel und Gewitter bewahre, weil die Leute in Oberhaching fleißige Bittgänger seien und häufig im Jahr Wallfahrten unternähmen, sagt er freilich nur im Spaß. Er kennt eine andere Erklärung dafür, dass schwere Gewitterfronten mit Blitz und Getöse auf Oberhaching zukommen, das Ortsschild aber nur selten erreichen. "Gewitterzellen saugen sich dorthin, wo es heiß ist und Thermik entstehen kann, und nicht dorthin, wo es kalt ist", sagt der Agrarmeteorologe. Das sei so in den Bergen oder in Gebieten wie dem Rosenheimer Becken, wo stehende, heiße Luft die Thermik in Schwung bringe. Das ist nicht so in Oberhaching.

Dunkle Gewitterwolken im Mix mit Sonnenschein und blauem Himmel Wolkenkontrast *** dark Thunderstorm

Eine Wetterscheide: Um Oberhaching ziehen Gewitter in der Regel herum.

(Foto: imago/Rech)

Wer sich dafür bei jemanden bedanken wollte, könnte dies wohl beim alten bayerischen Adel tun. "Oberhaching hat das Glück, dass die Wittelsbacher Kurfürsten große Forstgebiete rund um Oberhaching angelegt haben, die bis zum Perlacher oder Grünwalder Forst reichen", erklärt Schelle. Waldgebiete hätten ein Kleinklima. Über ihnen entstehe selbst in den heißesten Sommern Kaltluft. Und weil große, schwere Gewitter Hitze und Thermik für ihr Wachstum benötigen, haben sie im bewaldeten Raum wenig zu bestellen.

Schelle hat dazu bereits mit einem der Rosenheimer Hagelflieger gesprochen, der ihm diese Theorie aus eigenen Anschauungen bestätigte. Wenn zum Beispiel am Starnberger See ein Gewitter entsteht, dann sieht der Hagelflieger bald darauf eine Hälfte der Wolkenfront über den Irschenberg in Richtung Rosenheim weiterziehen oder entlang der Isar nach München. "Die alten Menschen im Ort sagen, das Gewitter geht die Isar runter oder den Berg entlang", sagt Schelle.

Das Wetter täglich im Blick haben naturgemäß die Landwirte. Er habe das ganze Jahr über auf Regen gewartet, berichtet Martin Schmid, Landwirt im Ortsteil Oberbiberg. Seiner Beobachtung nach ziehen die Gewitter auf der einen Seite entlang der Isar davon, auf der anderen über Sauerlach, Aying, Arget in Richtung Ebersberg, Rosenheim. Seine Hoffnung auf Regen mischt sich aber auch mit der Angst vor zu heftigen Gewittern, "sodass alles kaputt geht". Extrem mehr, extrem heiße, extrem lange Hitzetage beobachte er in den vergangenen Jahren. Dem Vieh machten schwere Gewitter in der Regel nichts aus. "Nur wenn's hagelt, hol' ich sie rein."

Phänomen: Bürgermeister und Agrarmeteorologe: Stefan Schelle.

Bürgermeister und Agrarmeteorologe: Stefan Schelle.

(Foto: Imago)

Karl Müller aus dem Ortsteil Gerblinghausen bestätigt die Theorie des Hagelfliegers, wonach am Starnberger See eine Wetterscheide ist. Seine Schwester wohne in Aufkirchen am Starnberger See und sie sage: "Der See teilt die Wetterfront." Nur bei ganz schweren Gewittern würde diese als Formation weiterziehen. Ja, er habe schon schwere Gewitter über seinen Hof ziehen gesehen, "aber einen Hagelschlag hat es seit 30 Jahren nicht mehr gegeben". Damit bestätigt Müller die Beobachtung von Franziska Hiebl. In ihrer Kindheit sei das anders gewesen: "Wenn es so schwarz dahergekommen ist und gescheppert hat, dann hat's geheißen: Jetzt geht's gleich los, und dann ist es auch gleich losgegangen", erinnert sich die 97-Jährige.

Das Oberhachinger Wetter muss demnach in den Achtzigerjahren einen zweiten Wandel erfahren haben. Der legendäre Wirt Franz-Xaver Kugler hat nach Meinung von Bürgermeister Stefan Schelle nichts damit zu tun. Bekanntlich hatte Kugler Anfang des 20. Jahrhunderts nach heftigen Regengüssen ausgerechnet am Wochenende aus Gram darüber ein Jesuskreuz von der Wand gerissen und in den Kühlkeller zu den Würsten geworfen - und dabei gebelfert: "De Würst konst jetzt selber fressen, regnen lassen hast es ja auch." Möglich, dass Franz-Xaver Kugler grad mit dem Petrus beim Weißwurstessen sitzt, vermutet Bürgermeister Schelle.

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