Pauillac:Lebenskunst im Laufschritt

Wine Enthusiasts Run The Marathon du Medoc

Wettlauf durch den Wein: Beim Marathon du Médoc geht es den meisten Teilnehmern weniger um die beste Zeit als um Spaß - und die beste Verkleidung.

(Foto: Denis Doyle/Getty Images)

Pullachs Partnergemeinde Pauillac feiert die Weinlese im September mit einem Marathon. Auf der Strecke stärken sich die Teilnehmer mit Bordeaux und Austern. Kulinarische Genüsse machen die Region auch für Urlauber attraktiv

Von Konstantin Kaip, Pauillac

Das Magazin Neon ist ja eher für jüngere Leser gemacht. Aber es gibt eine Frage in der August-Ausgabe des Heftes, die hätte Renate Sieghart trotz ihrer 77 Jahre mit Sicherheit richtig beantwortet. In dem Quiz, welche seltsamen Marathon-Wettbewerbe es tatsächlich gibt, hätte sie die Nummer 3 angekreuzt: den Médoc-Marathon, bei dem, so schreibt es das Magazin, "die Läufer zwischendurch Bordeaux statt Wasser" trinken. Sieghart ist den Marathon, den Pullachs Partnergemeinde Pauillac immer am zweiten Samstag im September zu Beginn der Weinernte ausrichtet, schließlich selbst schon dreimal gelaufen. 1996 war sie die erste Pullacherin, die die 42,195 Kilometer durch die Weinberge vorbei an zahlreichen Châteaus bewältigte.

Der außergewöhnliche Marathon findet am Samstag, 12. September, bereits zum 31. Mal statt. Stolz bewirbt die südfranzösische Gemeinde ihr größtes Publikumsereignis als den "längsten Marathon der Welt", bebildert mit Zeichnungen von rotnasigen Läufern, die mit tropfenden Weingläsern in der Hand selig Schlangenlinien laufen. Die Karikatur hat durchaus Wahrheitsgehalt, wie Sieghart erzählt. Sie erinnert sich an ein Abendessen, zu dem sie nach dem Lauf eingeladen war. Dort speiste sie unter anderem mit einem Belgier und einer Gruppe Südfranzosen. Der Belgier, erzählt Sieghart, habe die Strecke in etwa drei Stunden absolviert, sie selbst habe knapp vier Stunden gebraucht. Die Südfranzosen hingegen hätten unbeeindruckt erzählt, dass sie den Lauf, als Stierkämpfer verkleidet, in etwa sechs Stunden absolviert hätten, allerdings mit einer Abkürzung von gut zehn Kilometern und am Ende "nicht mehr ganz nüchtern".

Der Médoc-Marathon zieht inzwischen Publikum aus aller Welt an. Die Teilnehmerzahl ist auf 8500 begrenzt, wer mitlaufen will, muss sich in einem begrenzten Zeitraum Monate vorher im Internet anmelden. Der Langstreckenlauf sagt viel über die Gemeinde aus, die ihn ausrichtet. Denn aus einem durch und durch asketischen Wettbewerb wie einem Marathon ein lukullisches Ereignis zu machen - das ist schon très français, sehr französisch. Eine geballte Lebensfreude, die man erleben muss, wie Renate Siegharts Ehemann Rudi respektvoll bekundet, der mit seiner Frau zusammen seit drei Jahren die Gemeindereisen in die Partnerstadt organisiert. Auch er ist den Marathon schon mitgelaufen. Wenn er von den verrückten Kostümen, dem Spektakel und der Stimmung dort erzählt, gerät er ins Schwärmen. Zwar sei er selbst an den meisten Châteaus vorbeigelaufen, ohne den kostenlosen Rotwein zu probieren, sagt der ehemalige Gemeinderat. "Aber die Austern mit Weißwein, die es bei Kilometer 37 gibt, die bringen wirklich was: einen ordentlichen Eiweißschub in den Beinen." Ihre Begeisterung für den außergewöhnlichen Marathon haben die Siegharts bereits an die nächste Generation vererbt: Ihre Tochter Barbara nimmt dieses Jahr zum zweiten Mal an dem Spektakel teil.

Die Reise nach Pauillac lohnt sich nicht nur für das karnevaleske Sportereignis, zu dem man sich rechtzeitig um ein Hotel- oder Gästezimmer oder einen Stellplatz auf dem Campingplatz Le Gabarreys bemühen sollte. Die Pullacher Partnergemeinde ist bei einer Reise nach Südfrankreich in jedem Fall einen Abstecher wert: An der größten Flussmündung Westeuropas mitten im berühmtesten Weinbaugebiet der Welt gelegen, je zirka eine gemütliche Fahrstunde von Bordeaux, der Hauptstadt der Aquitaine, und Arcachon, der Hauptstadt der Austern, und den Sandstränden am Atlantik entfernt, ist Pauillac ein perfekter Ausgangspunkt um sich auf die Spuren des savoir vivre, der französischen Lebenskunst, zu begeben.

Deren Elixier ist freilich der Wein. Und weil Pauillac das beste "Terroir" für die erlesensten Tropfen bietet, war das Leben der heute zirka 5000 Einwohner zählenden Hafenstadt an der Gironde schon immer aufs Engste mit dem Weinbau verbunden. Pauillac steht schließlich als Herkunft auf den Etiketten der teuersten Flaschen, die der Markt so hergibt. Mit den Châteaux Lafite-Rothschild, Latour und Mouton-Rothschild beherbergt die Partnergemeinde Pullachs gleich drei von insgesamt nur fünf "Premiers Crus", der ersten Gewächse des Médoc. Die Fläche der Weinberge in Pauillac beträgt 1191 Hektar, etwa 8,2 Millionen Flaschen werden hier jährlich abgefüllt - für insgesamt 18 Crus Classés, 16 Crus Bourgeois, sieben Crus Artisans, diverse andere Qualitätsstufen und die älteste Winzergenossenschaft der Médoc-Halbinsel, nach der sich auch das Pullacher Salonorchester La Rose Pauillac benannt hat.

Zwar ist ein Besuch bei Lafite oder den Schlössern der Rothschild-Domaines für den gewöhnlichen Touristen ohne besondere Beziehungen in der Regel nicht möglich. Es gibt aber zahlreiche andere Weingüter im Gemeindegebiet, die Führungen und Weinproben anbieten. Informationen gibt es in der "Maison du Tourisme et du Vin" in Pauillac, wo man auch gleich Touren buchen und Wein kaufen kann. Wein und Tourismus ist die Kombination, in die die Gemeinde ihre Hoffnung setzt. Denn anders als man annehmen könnte, machen die großen Weinproduzenten Pauillac nicht reich. Die Kommune, erklärt Rudi Sieghart, muss sich mit einer Art Grundsteuer der als landwirtschaftliche Betriebe geltenden Güter begnügen, während die Gewerbesteuer im zentralistischen Frankreich nach Bordeaux und Paris geht. Viele Familien in Pauillac leben am Existenzminimum, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Der Frust etlicher Einheimischer richtet sich auch gegen die günstigen Saisonarbeiter aus den Maghreb-Staaten, die von Großbetrieben vermehrt für die Weinlese eingestellt werden. Der rechtsgerichtete Front National genießt daher im Médoc hohen Zuspruch, im Kanton Nord-Médoc erhielt er bei den Departementswahlen 2015 fast 53 Prozent der Stimmen. Der Bürgermeister von Pauillac, Florent Fatin, übrigens der jüngste im Médoc, gehört jedoch zur christdemokratischen UDI.

Beispielhaft für die Entwicklung der Gemeinde durch neue Wege des Weintourismus ist das Château Lynch-Bages. Es gehört der Familie des inzwischen verstorbenen Altbürgermeisters André Cazes, der die Partnerurkunde 1964 mit seinem Pullacher Amtskollegen Josef Seidl unterschrieb. Sein Sohn Jean-Michel und seine Kinder betreiben heute nicht nur das Weingut, in dem regelmäßig Ausstellungen zeitgenössischer Künstler gezeigt werden, und ein Hotel mit Restaurant. Cazes hat zudem vor zirka 15 Jahren sein Heimatdorf Bages rund um das Schloss saniert und wiederbelebt. 2010 wurde er dafür als "Pionier des Weintourismus" ausgezeichnet.

Die Siegharts, die seit 32 Jahren regelmäßig nach Pauillac fahren, haben schon viele Châteaus kennengelernt. Zum Pflichtprogramm jeder Reise gehört stets auch ein Abstecher nach Bordeaux. In die gut 50 Kilometer südlich an der Garonne gelegene Partnerstadt Münchens mit der berühmten Weinbörse und ihrer zum Unesco-Welterbe zählenden Altstadt kann man von Pauillac aus auch mit dem Schiff reisen. Andere Kreuzfahrten auf der Gironde führen auf die Île de Patiras mit ihrem alten Leuchtturm oder aufs Meer. Der Hafen von Pauillac galt lange als Tor zur Welt: 1777 hat General La Fayette hier mit seinen Freiwilligen zum Unabhängigkeitskrieg nach Amerika abgelegt, 1913 nahmen Albert Schweitzer und seine Frau Helene in Pauillac den Dampfer nach Afrika. Heute betreibt der europäische Flugzeugbauer Airbus einen eigenen Quai in Pauillac. Dort werden regelmäßig Flugzeugteile wie der Rumpf des A 380 von Hamburg aus angeliefert, um sie auf kleinere Schiffe zu verladen und weiter nach Bordeaux zu verfrachten, von wo aus sie den Landweg zu den Airbus-Werken nach Toulouse nehmen.

In den vergangenen Jahren hat sich in Pauillac einiges getan, wie die Siegharts feststellen: Der Quai an der Gironde wurde umgestaltet, und es gibt es ein Filmfestival, das Gäste aus ganz Frankreich anlockt. Bei ihren jährlichen Besuchen haben die Pullacher schon vieles besichtigt. Nur eine Einrichtung, sagt Renate Sieghart, wurde ihnen noch nie offiziell gezeigt: das Altenheim. Dabei bestehe das aus charmanten kleinen Reihenhäuschen mit eigenen Gärtchen. "Etwas ganz Besonderes", findet Sieghart. Eben très français.

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