Theater:Raus aus der Komfortzone

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Patrick Gabriel spielt die Rolle des namenlosen Strichers mit großer Intensität. (Foto: Claus Schunk)

Regisseur Bernd Seidel lässt im Wolf-Ferrari-Haus in Ottobrunn seine Protagonisten an der Frage von Schuld und Folgeschuld verzweifeln. Das Stricher-Drama „Diva“ ist ein expliziter Seelenstriptease der Hauptfigur und veranlasst so manchen Zuschauer im Saal, tief durchzuatmen.

Von Irmengard Gnau, Ottobrunn

Dieser Kuss ist zu viel für ihn. Gefühlvoll war er, beinahe zart, getragen von einer Sehnsucht nach Nähe. Völlig fehl am Platz also. Da helfen auch die Dreihundert extra nichts. Auf beinahe alles lässt er sich inzwischen ein, der Protagonist im Drama „Diva“, welche Wahl hat er auch, auf dem Strich ist er gelandet. Aber das? Was erlaubt er sich, dieser Kunde mit seinen seltsamen Vorlieben, der immer wiederkommt und auch noch diesen bescheuerten Namen trägt und heißt wie sein Beruf? Das war zu viel, Bäcker Becker.

Dirk Dobbrow, geboren 1966 in Berlin, richtet in seinen Theaterstücken gern den Scheinwerfer auf jene Seiten der Gesellschaft, auf denen es schmutzig und roh zugeht. Seine Protagonisten wachsen in einer Welt auf, die ihnen den Zugang zu zartem Glück versagt, die ihnen frühzeitig beigebracht hat, dass sich nur behauptet, wer rücksichtslos ist gegenüber sich selbst und anderen. „Diva“ hat Dobbrow vor knapp 30 Jahren verfasst, und man mag Gründe erahnen, warum es seit seiner Uraufführung 1996 am Bochumer Schauspielhaus kaum Aufführungen auf großer Bühne gab. Bernd Seidel, künstlerischer Berater und Hausregisseur des Wolf-Ferrari-Hauses in Ottobrunn, aber hat ein Faible für solch sperrige Stoffe. Er bringt Dobbrows Stricher-Drama nun in Ottobrunn und München auf die Bühne.

„Diva“ ist ein Stück, das Ensemble wie Zuschauer fordert, das beweist auch der Premierenabend in Ottobrunn. Seidel will „heiße Eisen anpacken“, wie er sagt, das Publikum aus seiner Komfortzone locken. Das kennen und schätzen die Theaterbesucher in Ottobrunn an ihrem Hausregisseur. Gleichwohl löst der zumindest verbal durchaus explizite Seelenstriptease der Hauptfigur im Saal manches tiefe Durchatmen aus.

Der namenlose Stricher, eindrücklich dargestellt von Patrick Gabriel in seiner 20. Inszenierung am Wolf-Ferrari-Haus, hat sich den Virus eingefangen. Wie lange ihm noch bleibt, weiß er nicht. Unter diesen Umständen will er eine Lebensbeichte abgeben, endlich offenlegen, was ihn schon so lange verfolgt. Diese Schuld, die ihn nicht loslässt, zu gewaltig, zu grausam die Tat. Dass er sie nie gesühnt hat, nie gefasst wurde, das frisst ihn auf. Echte menschliche Nähe, da ist er sich sicher, hat einer wie er nicht verdient. Und dann kommt da dieser Freier, der mehr will, ihn rausholen aus seiner Sackgasse der Selbstzerstörung. Dieser Bäcker, er ist eine einzige Provokation mit seinen Kuchen, seiner Pausbäckigkeit, seiner Gutgläubigkeit. Doch solche naiven Träume erlaubt sich der Stricher schon lange nicht mehr. „Ich muss arbeiten, anschaffen! Geld! Ich kann nicht träumen!“, lässt Seidel ihn ausrufen. Kann die in Glanz, doch Einsamkeit gealterte Diva noch an den Stricher heranrühren, eine Antwort auf seine lebenslange Suche nach einer Mutterfigur sein?

Im Ottobrunner Wolf-Ferrari-Haus spielt Gloria Gray die titelgebende Diva, Robert Dudek ist in der Rolle des Bäckers zu sehen. (Foto: Claus Schunk)

Regisseur Seidel verwebt die Erzählebenen, Selbstvorwürfe, Vergangenheit und Gegenwart, gekonnt. Das dreiköpfige Ensemble um Patrick Gabriel spielt intensiv, lässt den Schmerz des Strichers spürbar werden und verschafft dem Publikum Momente hörbarer Betroffenheit. Robert Dudek gibt den naiv-liebessuchenden Bäcker, der mit seinen eigenen Komplexen überfordert ist, überzeugend.

Der Hingucker auf der Bühne ist Gloria Gray. Die seit den 1990ern in vielen Rollen in Erscheinung getretene Schauspielerin, Entertainerin und Autorin verkörpert die titelgebende Diva im besten Wortsinn. Als verführerische und zugleich mütterliche Instanz strahlt sie auch aus dem Hintergrund Omnipräsenz aus mit ihrem goldenen Glitzerschein, der selbst den gefallenen Protagonisten für einen Augenblick in Wärme zu hüllen vermag.

Das Ensemble TAT Kreativ Akademie um Regisseur Bernd Seidel zeigt „Diva“ noch am 29., 30. und 31. Oktober sowie am 2. und 3. November im Theater Einstein in München.

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