Süddeutsche Zeitung

Dokumentarfilm:Der Weg aus der kleinen Hölle

"Cosmo und die andere Seite der Straße" des Ottobrunner Regisseurs Franz Stepan zeigt den Lebensweg von Jugendlichen in Brasilien zwischen Armut, Drogenmilieu und einem Kinderdorf. Nun feiert der Film im Gasteig Premiere.

Von Franziska Dürmeier, Ottobrunn

"Was ist im Leben wirklich wichtig?" Der Ottobrunner Regisseur Franz Stepan hat sich diese Frage nach einer Brasilienreise im März 2015 gestellt, und seit den Dreharbeiten dort in Guarabira fragt er sich das immer wieder. "Cosmo und die andere Seite der Straße" heißt sein Dokumentarfilm über den Ort im Nordosten des Landes. An diesem Donnerstag hat er Premiere im Münchner Gasteig.

Schauort ist eine der ärmsten Gegenden Brasiliens

Guarabira ist eine Gegend, in die sich laut Stepan kein Tourist hin verirrt, wo eine der höchsten Mordraten weltweit herrscht. Dort haben er und sein Team ihre Kameras aufgestellt und die Menschen beobachtet. Im Mittelpunkt steht der 13-jährige Cosmo und dessen Konflikt, sich für einen Lebensweg zu entscheiden. Hineingeboren in eine der ärmsten Regionen Brasiliens, früh mit Drogen und Kriminalität in Kontakt gekommen, der Vater Alkoholiker, seine Mutter drogenabhängig - das ist Cosmos Ausgangssituation. "Infernino" nennen viele das Armenviertel, aus dem er stammt, die "kleine Hölle". Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, liegt das "Paradies", ein Kinderdorf. Und Cosmo muss sich entscheiden, auf welcher Seite er leben möchte.

Kinder und Jugendliche wie Cosmo locke das schnell verdiente Geld mit Drogen, erzählt Stepan. Die meisten nehmen früh selbst Rauschmittel, Cosmo etwa ist abhängig von Crack - wie seine Mutter. Die Kinder leben selbständig, entscheiden, wann sie essen, wann sie schlafen, so Stepan. Das Kinderdorf bietet ihnen Struktur, eine gute Ausbildung, eine gute Ernährung sowie die Liebe und Zuneigung durch die Sozialmütter und Sozialväter. Trotzdem werden viele rückfällig und müssen sich immer wieder aufs Neue zwischen "Paradies" und "Hölle" entscheiden.

Zwischen dem Leben im Kinderdorf und in "Infernino" liegen Welten

Gegründet wurde das Kinderdorf in Guarabira vor 25 Jahren von Padre Geraldo, Pfarrer Gerhard Brandstätter aus Altötting, der in der 60 000-Einwohner-Stadt ein hohes Ansehen genießt. Ihn kennt Franz Stepan bereits sehr lange, sie trafen sich bei einem früheren Hilfsprojekt. Stepans Sohn hatte vorübergehend in Padres Kinderdorf Guarabira gearbeitet.

Heute wird das Projekt von Sebastian Haury geleitet, mehr als 50 Lehrer, Erzieher und Psychologen sind dort tätig. Etwa 250 Kinder besuchen die Schule, zudem sind 30 bis 40 Kinder und Jugendliche im Alter bis 18 Jahren dort untergebracht, die von Jugendrichtern zugewiesen wurden. Auch einen Kindergarten gibt es. Langfristig soll das Haus in brasilianische Hände übergeben werden.

"In Guarabira würden auch deutsche Eltern viel lernen", findet Stepan. Der Schlüssel für den Umgang mit den Kindern sei Ruhe, Gelassenheit, Liebe, Verständnis, Zuneigung, aber auch Konsequenz. Die Sozialeltern, die sich abwechselnd um die Minderjährigen kümmerten, böten ihnen Struktur, so Stepan. Morgens wird geduscht, dann gehen sie in die Schule, bereiten gemeinsam das Mittagessen vor, machen die Hausaufgaben. Es gehe nicht um Vorwürfe, es gehe um ein Angebot. "Die Kinder sind Regeln nicht gewohnt, wir können ihnen nur etwas anbieten", so Stepan.

Kurz nach der Ankunft in Guarabira hätten er und sein dreiköpfiges Team sich gefragt: "Wo sind wir denn hier gelandet?", erzählt Stepan. Ähnlich würden die Zuschauer der Filmdokumentation in die Handlung hineingeworfen. Bei der Version der Vorpremiere in Altötting enthielt der Film noch einen Sprecherkommentar, dieser ist nun weggefallen, da er eine unnötige Distanz aufbaute. "Man kriegt nicht jede Frage beantwortet", sagt Stepan. "Aber wir wollten, dass es dem Zuschauer so geht, wie es uns ging." Die Beziehung wachse und man werde emotional hineingezogen, so der Regisseur.

Während der Dreharbeiten wird die Mutter des Protagonisten ermordet

Ähnlich hart wie der Kontrast zu Beginn des Drehs, war auch der Kontrast danach. "Wir hatten kurz darauf einen Dreh in Abu Dhabi. Dort geben Menschen bis zu zehn Millionen Euro für ein spezielles Nummernschild aus - in Guarabira werden Kinder und Jugendliche für Drogenschulden von 50 Cent ermordet", sagt Stepan. Padre Geraldo habe immer gesagt: "Bei uns in Guarabira ist ein Menschenleben so viel Wert, wie wenn man eine Fliege im Sommer an die Scheibe klatscht", zitiert ihn Stepan. Hier stelle man sich wieder die Frage nach dem Sinn und Wert des Lebens und merke die totale Diskrepanz zwischen dem, worüber man sich Sorgen mache und dem, was wirklich wichtig sei.

Trotz der Armut und Kriminalität empfand der Regisseur Guarabira als einen inspirierenden Ort: "Die Stadt ist toll, die Menschen herzlich", sagt er. Auch die Kinder seien beim Dreh sehr locker gewesen und hätten große Lebensfreude ausgestrahlt. Dennoch ist der Tod allgegenwärtig. Während der Dreharbeiten wurde die Mutter des Protagonisten Cosmo grausam ermordet.

Auch viele der Kinder und Jugendlichen können dem Teufelskreis von Drogen und Kriminalität nicht entrinnen. Eine Gedenkstätte, die Padre Geraldo errichtet hat, erinnert daran. "Das hat am meisten Wirkung auf die Kinder und Jugendlichen", so Stepan. "Man sieht das Kreuz, kannte ihn, hat mit ihm Blödsinn gemacht - und jetzt ist er tot." Die Erfolgsrate derer, die es im Kinderdorf schaffen, liegt Stepan zufolge bei 80 Prozent. Einer von ihnen ist der 32-jährige Marcelino, dessen Geschichte sich im Laufe der Dokumentation mit der von Cosmo vermischt. "Er hat es geschafft", so der Regisseur. "Er hat eine Frau, Kinder und arbeitet nun in einer Recyclingfirma."

Mit seinem Film will Regisseur Franz Stepan das Kinderdorf unterstützen

Im Moment sei es sehr schwer geworden, das Kinderdorf zu finanzieren, da der brasilianische Staat nicht mehr so viel zuschießen könne, sagt Stepan. "Das ist auch mit ein Grund, warum wir den Film gemacht haben." Der Eintritt zur Premiere ist kostenlos und auf Spendenbasis. Eigentlich führt Franz Stepan ein Unternehmen, das überwiegend Wirtschafts- und Werbefilme produziert. Er selbst ist jedoch mehr im Bereich Langzeitdokumentation beheimatet.

Der Dokumentarfilm aus Guarabira sei ein ungewöhnlicher Film, betont Franz Stepan, ein Film, der aus Zufällen und dem alltäglichen Leben heraus seine Struktur, seine Geschichten gewinnt. "Wie wollten nichts beeinflussen, nichts arrangieren", sagt der Ottobrunner. Den Zeitplan für den Dreh hätten die Geschehnisse vor Ort vorgegeben "Wir wollten keine ganz normale Fernsehdokumentation machen", sagt Stepan. Es handle sich mehr um "Momentaufnahmen", wie Stepan sie beschreibt, die einen 80 Minuten lang ein wenig spüren lassen, wie sich das Leben in Guarabira anfühlt.

"Cosmo und die andere Seite der Straße", Filmpremiere am Donnerstag, 14. April, 19.30 Uhr, Gasteig München, Rosenheimer Straße 5, Carl-Orff-Saal. Im Juli wird es eine Fernsehausstrahlung mit Talkrunde geben.

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Quelle:
SZ vom 14.04.2016/gna
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