Es war im Herbst 2015, als da mit einem Mal überall diese Bilder waren: im Fernsehen, in den Zeitungen, im Internet. Wohin man auch sah, begegneten einem Menschen auf der Flucht. Männer mit ausgezehrten Gesichtern und Dreck verkrusteten Schuhen. Frauen, die ängstlich ihre Babys an die Brust drückten. Und Kinder, so klein, dass sie den Grund für die Strapazen kaum verstanden haben können.
Das Leid dieser Menschen, ihre Geschichten, die hätten sie damals einfach sehr berührt, sagt Christine von Tucher bei der Vernissage im Treffpunkt Kunst, der Galerie des Kunstvereins Ottobrunns. Und zitiert noch gleich Goethe, für den "die Kunst eine Vermittlerin des Unaussprechlichen" gewesen sei - eine Aussage, die für sie viel Wahres beinhalte. Erst im Mai hatte Christine von Tucher, 53 Jahre alt und in Ansbach daheim, den Wettbewerb bei der Biennale "Artiges" gewonnen, eine alle zwei Jahre stattfindende Ausstellung des Kunstvereins im Rathaus Ottobrunn. Alle fünf Juroren seien gleichermaßen begeistert gewesen von Tuchers Arbeit, sagt Ewald Mertes, der erste Vorsitzende des Kunstvereins Ottobrunn. Da habe man gleich gewusst: "Das ist das Bild für die Preisträgerin."
Bis Ende Juni kann sie nun 24 Bilder in einer Einzelausstellung zeigen, das ist quasi ihr Preis. "Farbwelten Fluchten" ist die Schau überschrieben. Denn die Malerin zeigt in der kleinen Galerie an der Rathausstraße nicht nur Grafitzeichnungen aus ihrer Werkreihe "Fluchten", an der sie zwei Jahre lang ununterbrochen arbeitete, sondern auch einige abstrakte Arbeiten in Farbe - ihrer alten Leidenschaft, der sie sich von 2017 an wieder vermehrt zuwandte. Grün, Orange, Gelb und Blau verbinden sich bei ihr zu Kompositionen von einer Leuchtkraft, die es locker mit den schönsten Sommertagen aufnehmen kann. Allerdings sei dies mitnichten ein Produkt des Zufalls, wie Veronika Schattenmann den Gästen der Vernissage am vergangenen Freitag erklärte, die künstlerische Leiterin des Kunstvereins Ottobrunn. Tucher setze den farbigen Flächen nämlich ganz bewusst ein Weiß entgegen. Dieses bringe Farben zum Strahlen, gestalte sie gewissermaßen. "Weiß bringt Farben in Form."
Und wenn man sich an den Kontrast zwischen knallfarbiger Lebensfreude und der ganz in Grautönen gehaltenen Werkreihe auch erst gewöhnen muss, so ist die Künstlerin für ihre Vielseitigkeit doch nur zu loben. Das Bild, das Christine Tucher zur Preisträgerin von Artiges machte, steht nämlich in einem deutlichen Gegensatz zu ihren farbenfrohen Werken: Aus der Frontale hat Tucher die Szene einer Flucht mit Grafit festgehalten, detailreich und mit feinem Strich. Die Menschen darauf erschöpft und müde oder hustend, den Blick zu Boden gerichtet. Nur einem kleinen Jungen, vielleicht zehn Jahre alt, hat Tucher etwas Lebensfreude ins Gesicht gezeichnet. Die Neugier darauf, was da wohl kommen mag in diesem Europa. In dem neuen Land. Der neuen Stadt. Dem neuen Leben.
Sie sei sehr beeindruckt von dem Durchhaltevermögen, mit der sich Tucher für ihre Werkreihe wieder und wieder des selben Themas angenommen habe, sagte Schattenmann. Der Grafit werde aufgetragen und dann zum Teil wieder abgenommen. Das sei nicht nur sehr mühevoll, sondern erfordere Disziplin, oft auch ein Zwingen. Das wisse wohl jeder, der künstlerisch tätig sei. "Das bewundere ich."
Und tatsächlich hat Christine von Tucher, die vor ihrer Ausbildung an der Akademie Faber-Castell Betriebswirtschaftslehre studierte, in ihrer Werkreihe praktisch keine Etappe einer Flüchtlingsbiografie ausgespart. Das Suchen, das Warten, das Ankommen. In ihren Bildern tauchen aber auch die Sanitäter auf, die ihr Möglichstes taten, das Schicksal dieser Menschen zu erleichtern. Ein anderes Bild zeigt zwei junge Männer in ihrer Unterkunft. Und wie sie da nebeneinander auf einer Liege sitzen, in den Händen ein Smartphone, wirken sie isoliert, ja beinahe apathisch.
Auf vier Metern erstrecken sich die Arbeiten, auf denen sich Tucher dem Zug der Flüchtlinge angenommen hat, diesen nicht enden wollenden Strom, der sich Meter für Meter den Weg in eine ungewisse Zukunft erkämpft. Die Menschen darauf gleichen einer grauen Masse, denn Tucher ist im Vagen geblieben, um die Anonymität zu betonen, und konsequenterweise sind einzelne Gesichter hier nicht auszumachen.
Wer also das Wesen dieser Arbeiten voll und ganz erfassen möchte, der macht es am besten wie Veronika Schattenmann: Diese hat den Menschenzug an den Wänden im Erdgeschoss der Galerie nämlich einmal ganz bewusst und in Ruhe auf sich wirken lassen. Und plötzlich habe sie die Schritte beinahe hören können, das Atmen und das Schleppen, wie sie den Gästen erzählt. "Und mir wurde ganz anders, das sage ich Ihnen."
Die Ausstellung von Christine von Tucher "Farbwelten Fluchten" ist bis zum 30. Juni in der Galerie "Treffpunkt Kunst" zu sehen, Rathausstraße 5, Ottobrunn.