Die Madonna Litta, die stillende Madonna, bei der bis heute nicht geklärt ist, ob sie Leonardo da Vinci zuzuordnen ist oder einem gewissen Giovanni Antonio Boltraffio, hat das Stillen ihres Babys aufgegeben. Zumindest im "Treffpunkt Kunst", zumindest in jener Version, die Zhenya Li in diesen Tagen in der Galerie des Kunstvereins Ottobrunn zeigt. Die 33 Jahre alte Künstlerin hat die bekannte Szene der Renaissance nämlich so gemalt, wie sie heutzutage häufig zu beobachten ist: Die Mutter ist in Dinge vertieft, die ihr das Smartphone anzeigt - und das Baby muss sich mit dem Nuckeln an einem Milchfläschchen zufrieden geben.
"Cross Over" ist die sehenswerte Ausstellung der gebürtigen Chinesin überschrieben, die noch bis zum 21. Dezember in der kleinen Galerie an der Rathausstraße 5 zu sehen ist. Die Schau ist ein Querschnitt durch das Werk der Künstlerin, die ihre Arbeiten in Öl um gute Ideen und die Effekte neuer Medien anreichert - mithilfe eigens entwickelter Apps. Und indem sie die Kunst quasi animiert, erweitert sie diese nicht nur um neue Funktionen, sondern auch um neue Realitäten. Ein Phänomen, das sich eindrücklich an ihren großformatigen Koi-Bildern studieren lässt.
Auch in Ottobrunn zeigt Zhenya Li einige Gemälde dieser farbenprächtigen Fische, die sie mit größter Genauigkeit nach Fotografien malt. Aber auch der Schnappschuss eines traurigen Jungen hinter einer Fensterscheibe und Zhenya Lis hintersinnige Interpretationen diverser Klassiker der Malerei sind zu sehen. Womit wir wieder bei der nicht mehr stillenden "Madonna Litta" wären: Dass diese den Blick abwendet von ihrem Kind, könnte man der Künstlerin natürlich als saftige Kritik an einer Gesellschaft auslegen, die sich zunehmend in den unendlichen Weiten des Internets verliert. Doch statt Schelte bringt die Künstlerin Verständnis für die jungen Mütter auf. "Früher waren die Familien auch größer", sagt Li, selbst Mutter eines fünfjährigen Mädchens. Dagegen seien die Familien heutzutage oft auf sich alleine gestellt: Vater, Mutter, Kind - mehr ist da oftmals nicht. Keine Tante oder Oma, kein Großvater in der Nähe, die mal als Babysitter einspringen könnten. Insofern könne sie es gut nachvollziehen, wenn Frauen mal eben einer Freundin eine Nachricht schrieben. Oder ein paar Minuten Zerstreuung im Internet suchten. Es sind Sätze wie diese, die aufhorchen lassen. Die ihren besonderen Blick auf die Welt offenbaren, ihr Talent, jahrhundertealte Klassiker an die Lebensrealität des 21. Jahrhunderts anzupassen.
Schon klar: Zhenya Li, die 2008 für ein Studium an der Akademie der Bildenden Künste von Shanghai nach München zog, trägt die unerschöpfliche Liebe vieler Asiaten zu den alten Meistern Europas in sich. Und sie beherrscht ihr Handwerk, versteht es im Fall von Jan Vermeers "Das Mädchen mit dem Perlenohrring", die Lichtreflexe so in die Mundwinkel zu platzieren, dass es so aussieht, als setze die hübsche Unbekannte im nächsten Moment zu einem Lächeln an. Ein präzises Auge, eine versierte Pinselführung; all diese Dinge bringt Zhenya Li mit, die bereits mehrfach in Ottobrunn und in München, aber auch schon in New York ausgestellt hat.
Doch die Künstlerin mit dem Pagenkopf traut sich nicht nur, der Madonna Litta ein Smartphone in die Hand zu malen. Sie verfrachtet auch den legendären "Rückenakt" des dänischen Künstlers Christoffer Wilhelm Eckersberg aus dem Jahr 1841 hinter die durchsichtige Wand einer Dusche, an der Wasser herabrinnt. Und Vermeers berühmtes Mädchen-Porträt kommt bei ihr ohne den Titel gebenden Ohrring daher - dafür hat Zhenya Li ein Paar Perlen in Tropfenform in einem Rahmen daneben gehängt. Keine teuren, natürlich. Sondern Modeschmuck, wie ihn viele Frauen besitzen. Ein guter Gag, denn so kann die Betrachterin des Gemäldes darüber sinnieren, wie sich die eigenen Ohrringe im Bild machen würden. Eine kunsthistorisch weitaus bedeutsamere Debatte stößt Zhenya Li allerdings mit ihrer Interpretation des "Salvator Mundi" an, ein weiteres Bild, das gemeinhin Leonardo da Vinci zugeschrieben wird. Das auf die Zeit um 1500 datierte Gemälde hatte einige Bekanntheit erlangt, als es 2017 für sage und schreibe 450 Millionen Dollar bei Christie's in New York versteigert wurde. Zuvor hatte eine übereifrige Restauratorin über Jahre hinweg das Gemälde bearbeitet. Da tat sich für Zhenya Li die Frage auf, ob das nicht zu viel des Guten war? Man könne das Original doch so lassen, wie es ist. Und stattdessen eine neue, etwas andere Version davon schaffen.
So wie Zhenya Li es getan hat, als sie die Darstellung besagten Heilands "rerestauriert" hat. Die Restauration also rückgängig machte und das Gemälde optisch in seinen ursprünglichen Zustand versetzte, mit wuchernden Rissen, die sich als gelbe Linie durch das Gemälde ziehen. Wer die App, die Zhenya Lis Mann Alfred Altenburger eigens entwickelt hat, mittels Smartphone oder Tablet über die farbgewaltigen Bilder mit den Kois legt, der sieht die Fische tatsächlich ihre geschmeidigen Kreise ziehen. Zhenya Li ist von diesen Fischen, die in Asien als Glücksbringer gelten, fasziniert, seit sie diese vor einigen Jahren auf dem Shanghaier Friedhof gesehen hat, auf dem ihre Großeltern begraben sind. Seither fotografierte und malte sie Kois, wo immer sie ihr begegneten. In China und Japan natürlich, aber auch in Bayern hat sie schon einige Exemplare entdeckt. "Wenn man sie lange anschaut, ist das sehr beruhigend."