Süddeutsche Zeitung

Ottobrunn:Catwoman in Flammen

Lesezeit: 3 min

Merlin Ortner arbeitet in seiner Ausstellung in Ottobrunn szenisch Halluzinationen von Menschen auf

Von Christina Hertel, Ottobrunn

Eine Frau mit Lockenkopf liegt in ihrem Bett, unter einer großen braunen Decke. Sie guckt ein bisschen verschmitzt, neugierig, wie ein Kind, dem gerade eine Gutenachtgeschichte erzählt wird. Tatsächlich beobachtet sie Fantastisches: Superhelden hängen von ihrer Zimmerdecke. Catwoman, Superman, der Gelbe von den Powerrangers. Das Ganze ist kein Traum, kein Roman, die Frau in dem Bett sieht die Superhelden tatsächlich. Sie kommen zu ihr Tag für Tag vor dem Einschlafen - als Halluzination.

Der Berliner Künstler Merlin Ortner hat sich mit dem Phänomen beschäftigt. Er ließ Schauspieler Szenen, die Menschen als Halluzination erlebten, nachstellen - und hat sie fotografiert. Zu sehen sind die Werke bis zum 28. Oktober in Ottobrunn.

Ein Unbekannter ist Ortner in der Gemeinde nicht. Er ist Sieger des Ottobrunner Kunstpreises "Artiges", den der Kunstverein alle zwei Jahre auslobt. Den Gewinn löste Ortner jetzt ein. Eine Einzelausstellung mit dem Titel "Transzendenz des Bewusstseins". Zwei Fragen ziehen sich durch seine Bilder: Was ist Wirklichkeit? Was Illusion? Anders aber als die Surrealisten interessiert sich der 34-Jährige nicht für eine Darstellung von Träumen oder Visionen, die etwa durch einen Drogenrausch künstlich erzeugt wurden. Er zeigt Fälle, die wirklich passiert und medizinisch belegt sind. Auf die einzelnen Beispiele kommt Ortner ganz einfach, indem er mit möglichst vielen Menschen spricht. Seine Erkenntnis: Mehr Menschen hatten schon ein übersinnliches Erlebnis, als man denkt. Es spricht nur keiner darüber.

Empfunden wird, so zumindest Ortners Eindruck, die Halluzination von den Menschen unterschiedlich. Manche sind darüber belustigt, andere erleben sie als bedrohlich. Dass nicht alle locker damit umgehen wie die Frau, die in ihrem Bett eingekuschelt Superhelden anschaut, sieht man auch an Ortners Fotografien. Ziemlich düster wirken viele, die Farben sind reduziert. Es sind Bilder, die sich wohl die meisten Menschen nicht über die Couch hängen würden, damit das Wohnzimmer gemütlicher wirkt. Es sind Bilder, die den Betrachter zum Nachdenken bringen sollen.

"Orange" etwa zeigt einen Mann auf dem Boden liegend und mit orangefarbenen Haaren bedeckt. Vor ihm eine Ratte, die an einer Kartoffel knabbert. "Wenn der Betrachter nicht weiß, dass hier seine Halluzination gezeigt wird, könnte er auch meinen, da liegt einfach ein sehr trauriger, verzweifelter Mann und denkt dann vielleicht darüber nach, warum das so ist", sagt Ortner. Ihn interessiert, wie das Gehirn funktioniert, wie eine Halluzination zustande kommt. Dafür recherchiert er in medizinischen Büchern und Zeitschriften und stößt immer wieder auf Fälle, die er fotografisch festhält. Wie diesen: Das Mädchen ahnt nicht, dass es anders ist. Wenn es Menschen anschaut, sieht es kein Gesicht, sondern einen Drachenkopf. Die Haut ist die eines Reptils, die Augen grün, gelb, blau oder rot, die Ohren spitz, mitten im Gesicht eine lange Schnauze. Das Mädchen stört das nicht - es weiß gar nicht, dass nicht jeder die Welt so sieht. Erst als Jugendliche merkt sie, dass das nicht so ist. Sie wird mit Medikamenten behandelt, ohne Wirkung, sie verzweifelt, beginnt an Depressionen zu leiden und zu trinken. Ortners Bilderreihe "Leviathan" ist von der Geschichte dieses Mädchens inspiriert. Er zeigt eine Frau, die an einer Tankstelle steht, mit einer Drachenmaske über das Gesicht gezogen. Ihre Arme stehen in Flammen. Fast ein bisschen erhaben sieht das aus. Ortner zeigt kein Opfer, das an seinen Halluzinationen zu Grunde gegangen ist. Die Umsetzung solcher Fotografien ist aufwendig, nicht nur wegen der Recherche. Zuerst erarbeitet er am Computer einen Entwurf mit Lichtstimmungen und Komposition. Dann castet er Schauspieler, entwirft das Masken- und Kostümbild. Das Ganze hört sich nach Film und Fernsehen an? Tatsächlich sehen einige Fotos so aus, als hätte man bei einem Video nur kurz die Stopp-Taste gedrückt. Zufall ist dieser Eindruck wohl nicht.

Ortner arbeitet als Filmbildner bei Spielfilmen, Werbeclips und Musikvideos. Dass er mal in dieser Branche landen würde, dürfte nicht immer sein Plan gewesen sein. Auf der Kunstakademie Weißensee beschäftigte er sich hauptsächlich mit Malerei. Doch er gab sie auf, weil er mit Pinsel und Farben immer nur um sich selbst kreiste. Weil er aber nicht immer nur in sich hinein, sondern in die Welt hinaus schauen wollte, musste ein anderes Medium her - die Fotografie.

Die Ausstellung "Transzendenz des Bewusstseins" ist noch bis 28. Oktober in der Galerie Treffpunkt Kunst, Rathausstr. 5, in Ottobrunn zu sehen. Die Öffnungszeiten sind mittwochs bis freitags 15 bis 18 Uhr sowie samstags von 10 bis 13 Uhr.

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Quelle:
SZ vom 11.10.2016
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