Otto Bürger steht im Kellergewölbe des Hans-Scherer-Hauses vor einer Einbuchtung in der Wand, umgeben von modriger Feuchte und der vollen Aufmerksamkeit seines Gegenübers. Dahinter könnte er liegen, der geheime Gang, über den man sagt, dass er das ehemalige Franziskaner-Kloster in Mittenheim mit der ehemaligen St.-Ignatius-Klause im Berglwald verbindet.
Etwa einen Kilometer soll der unterirdische Tunnel lang sein, in den während des Zweiten Weltkriegs zwei Soldaten hineingekrochen sein sollen. "Die sind nicht mehr zurückgekehrt", sagt der Ortshistoriker aus Oberschleißheim. Für einen kurzen Moment taucht in seinem Gesicht die Freude eines Kindes beim Suchen von Ostereiern auf. Natürlich nicht der verschwundenen Soldaten wegen. Sondern weil es ihm wieder einmal gelungen ist, den Zuhörer mit einem "Geschichterl" für die Geschichte zu gewinnen.
An einem Frühlingsmorgen, an dem sich das Wetter nicht zwischen Sonne und Regen entscheiden kann, führt Bürger durch die Historie des ehemaligen Franziskaner-Klosters im Ortsteil Mittenheim. Im Juli vor 80 Jahren gingen die rund 140 Hektar Boden und sämtliche Gebäude in den Besitz des Katholischen Männerfürsorgevereins (KMFV) über, unter dessen Trägerschaft aus der Anlage eine "alkoholfreie Einrichtung" wurde, wie es im Flyer heißt. Heute trägt das Haus den Namen eines ehemaligen Vorsitzenden Hans Scherer und bietet etwa 60 Männern eine Heimat, die aus der Bahn geworfen worden sind. Im Umgriff des einstigen Klosters, wo jetzt noch Felder sind, sollen bald schon etwa 450 neue Wohnungen entstehen.
In unmittelbarer Nähe zu dem einstigen Kloster soll ein modernes Wohnquartier entstehen.
(Foto: Planungsbüro Goergens Miklautz Partner)"2023 soll noch einmal Hafer angebaut werden. Nach der Ernte sollen die Vorbereitungen für die Bauarbeiten beginnen", erklärt Bürger. Der 1939 geborene Ortschronist klappt den Ständer seines Fahrrads aus und zieht zwei Din-A3-Seiten aus der Tasche, Kopien aus dem von ihm verfassten Buch "Schleißheimer Geschichten und Geheimnisse". Man müsse also nicht extra mitschreiben. Da stehe ja alles drin. Als er dann zu einem kleinen Referat ansetzt, muss der mysteriöse Gang aber erst mal warten. Bürger weiß schon, wie man Spannung aufbaut. Und obwohl sich im Gedächtnis des Ortshistorikers über die Jahrzehnte hinweg eine schier unübersichtliche Zahl an Daten und Fakten angesammelt haben, erklärt er so, dass auch Unkundige mühelos mitkommen.
Es geht also erstmal um eine Klause mit Garten und Brunnen, die um 1600 in Mittenheim angelegt worden war. Diese wiederum habe seinerzeit Max Emanuel dazu veranlasst, die Franziskaner von 1716 an eine Klosteranlage bauen zu lassen. "Ist alles vom Kurfürst bezahlt worden", sagt Bürger. Der Wittelsbacher ließ sich nicht lumpen und engagierte für die Gestaltung den Schweizer Architekten Enrico Zuccalli, der viele Jahre bayerischer Hofbaumeister war und als einer der wichtigsten Vertreter des Münchner Hochbarocks gilt. 1804 wurde die hübsche Klosterkirche an der Westseite abgerissen. Eine Folge der gründlichen Säkularisation in Bayern, die auch dem Wirken der Franziskaner in Oberschleißheim ein Ende bereitete.
Ortshistoriker Otto Bürger lädt immer wieder zu historischen Führungen durch Oberschleißheim ein.
(Foto: Robert Haas)Ein gelber Transporter der Post fährt vor und verstellt den Blick auf das kompakte weiße Ensemble des einstigen Klosters und späteren Guts Mittenheim. Bei einem Rundgang soll sich die Anlage dann als ein Bullerbü für Menschen entpuppen, mit denen es das Leben nicht gut gemeint hat. In einem kleinen Teich neben der Gärtnerei plustert sich eine Ente auf, im Gewächshaus gedeiht Salat und in den Beeten wachsen Tulpen und Traubenhyazinthen, in weitläufigen Gehegen leben Schafe und Kaninchen. In der Werkstatt für die Restauration von Möbeln streicht ein Mann zu dezenter Radiomusik die Rückwand eines Küchenbuffets meerjungfrauengrün, außerdem gibt es eine Schreinerei und eine Fahrradwerkstatt auf dem Gelände, denn zum Konzept des Hauses gehört auch, dass die Männer arbeiten und berufliche Qualifikationen erwerben. Erst der Anblick der Maggiwürze auf den Holztischen holt einen in die Realität zurück: ein ganz gewöhnlicher Speisesaal, über den wie bei einem christlichen Träger zu erwarten ein Jesus am Kreuz wacht.
Nach der Auflösung des Klosters durch die Säkularisation richtete ein Kommerzienrat aus Düsseldorf eine Färberei in den Räumen ein, von 1814 an beherbergte das ehemalige Kloster eine Stahlfabrik. Überhaupt sollte die Immobilie noch etliche Male den Besitzer wechseln, ehe Adolf Mathes, der Gründer des Katholischen Männerfürsorgevereins, das Gut Mittenheim 1953 kaufte. Als Ersatz für die abgerissene Klosterkirche wurde zehn Jahre später zu Ehren des heiligen Franziskus eine neue Kapelle eingeweiht. "Die ist 24 Stunden an sieben Tagen geöffnet", erklärt Bürger. Ein permanent verfügbarer Ort der Ruhe, vor dem ein himmelhoher Kirschbaum seine Blüten treibt. Und vielleicht braucht es genau das, wenn man sich selbst neu ausrichten will.
"Ich bin da schon seit Jahren zugange"
Dass sich um den Geheimgang des einstigen Klosters mittlerweile die Anekdoten ranken wie Wein um eine Pergola, liegt sicher auch an Otto Bürger. "Ich bin da schon seit Jahren zugange", sagt der Ortschronist verschmitzt. Denn indem er Archive durchforstet und seine Erkenntnisse aufschreibt, lässt er die Geschichten weiterleben. Damit die Zeit keine Chance hat, die Erinnerung daran zu verwischen: Kurz nach dem Verschwinden der beiden Soldaten soll einer Bäckersfrau aus Mittenheim "eine weiße Frau" erschienen sein, was wiederum den ehemaligen Bürgermeister Hermann Schmid dazu bewog, die Mitarbeiter des Bauhofes nach dem Geheimgang graben zu lassen - ohne Ergebnis. Sei's drum.
Heute ist das ehemalige Kloster als Hans-Scherer-Haus ein Männerwohnheim.
(Foto: Robert Haas)Die Franziskaner waren jedenfalls nicht untätig. Sie legten einen Friedhof an und übernahmen Pfarrdienste für die Gemeinde, die ihrem Wesen nach ja eher eine höfische Siedlung war. Insofern ist die Geschichte des Klosters auch ein Stück Ortsgeschichte. Und die hat Otto Bürger schon begeistert, als ein Junge war und von Altschleißheim nach Mittenheim zum Milchholen geschickt wurde. Mit der leeren Kanne hin, mit einer vollen zurück. So wie das damals halt war.