Oberschleißheim:Kritiker ruft Aufstand der Alten aus

Im Bürgersaal erhält Claus Fussek viel Zustimmung. Er nimmt Pflegekräfte und Angehörige in die Verantwortung

Von Irmengard Gnau, Oberschleißheim

Dass Claus Fussek nicht gerade zimperlich ist, wenn es darum geht, das deutsche Pflegesystem zu kritisieren, eilt dem 64-Jährigen längst als Ruf voraus. Seit 30 Jahren hat es sich der diplomierte Sozialpädagoge zur Aufgabe gemacht, lautstark eine gute und menschenwürdige Versorgung im Alter zu fordern. Dafür ist er regelmäßig in Pflegeheimen unterwegs und prangert Missstände, die ihm dabei begegnen oder zugetragen werden, öffentlich an. Gute Pflege ist aus Fusseks Sicht "eine Frage der Haltung" - so lautete auch der Titel des Vortrags, mit dem er am Donnerstagabend auf Einladung des Ortsverbands des VdK nach Oberschleißheim gekommen war.

Eben jene Haltung gehe auf dem Weg zwischen Anspruch und Wirklichkeit häufig verloren, so Fusseks Tenor. Besonders unsäglich findet der Kritiker, dass die teils beklagenswerten Zustände in deutschen Pflegeeinrichtungen ja bekannt seien - und nichtsdestotrotz seit Jahren so herrschten. "Warum gibt es keinen Aufschrei? Es sind sich doch alle einig, dass wir gute Pflege wollen!" Wie sehr das Thema vielen Menschen unter den Nägeln brennt, ließ sich an dem großen Interesse an dem Vortrag ablesen: Etwa 80 Zuhörer hatten den Weg ins Bürgerhaus gefunden, der Saal musste mit weiteren Stühlen bestückt werden, um alle zu fassen. Ein Hintergrund dafür dürften die Vorkommnisse im Haus am Valentinspark sein. Erst vor Kurzem waren Missstände in dem Pflegeheim im benachbarten Unterschleißheim bekannt geworden, nachdem sich ein Angehöriger an die Presse gewandt hatte.

Neben zahlreichen Beispielen aus dem Alltag von Angehörigen oder Pflegenden, die vielfach auf ein zustimmendes Grummeln stießen, nahm Fussek seine Zuhörer auch mit einigen durchaus unangenehmen Fragen in die Pflicht. Sowohl Angehörige als auch Pflegekräfte trügen eine Mitschuld daran, dass sich nichts an der Pflegesituation ändere. "Warum kritisieren die Angehörigen die Zustände nicht? Warum wehren sich die Pflegekräfte nicht?", fragt Fussek provokant. "Wer mitmacht und schweigt, stimmt zu." Ein Großteil der Probleme in der Pflege, so seine Überzeugung, sei menschengemacht - es gebe sehr wohl gute Heime, verantwortungsvolle Heimleiter und empathische Pflegekräfte. Allerdings, so der Kritiker, eben tragischerweise nicht überall.

Fussek zeigte Verständnis für die Problematik, dass Pflegekräften aufgrund profitorientierter Personalplanung der Heimträger vielfach wenig Zeit für jeden einzelnen Senioren bleibe. "Aber, liebe Pflegekräfte", forderte Fussek, "dann fälscht nicht die Dokumente! Dokumentiert endlich ehrlich, was ihr leisten könnt, dann haben Politik und Träger die Pflegewahrheit schwarz auf weiß." Unter unveränderten Umständen malte Fussek ein schwarzes Bild für die Zukunft. Einerseits würden Pflegeschüler im Berufsalltag verheizt, andererseits sei der Bedarf an Personal in manchen Regionen so groß, dass auch Ungeeignete eingestellt würden. Er appellierte an die Anwesenden - in Großzahl selbst jenseits der 65 - selbst aktiv zu werden, in die Heime zu gehen. Auch Kommunen, Kommunalpolitiker und Medien nahm Fussek in die Pflicht.

Der Appell verhallte nicht ungehört. Die Veranstaltung motiviere sie, sich weiter für eine Verbesserung der Situation im Haus am Valentinspark einzusetzen, erklärte Annegret Harms, SPD-Stadträtin und Sozialreferentin aus Unterschleißheim. Dort höre man seit Jahren von Missständen, sie sei von der Leitung auf Nachfragen hin aber stets mit guten Pflegenoten der Einrichtung vertröstet worden. Auch für Kommunalpolitiker sei es schwer, die selbst gesteckten Ziele bei der Pflege zu erreichen, bekannte Harms selbstkritisch und erntete dafür Beifall.

Um Solidarität warb die Unterschleißheimer Seniorenbeauftragte Sonja Lehnert. "Macht den Mund auf", rief sie den Zuhörern zu. "Wir Ältere sind eine Riesenmacht, und wir werden immer mehr!" Nicht zuletzt seien sie auch Kunden der Heime, die viel Geld zahlten. Fussek griff die Stimmung auf und rief einen "Aufstand der Alten" aus. Alle sollten mithelfen etwas zu ändern, in Unterschleißheim und darüberhinaus.

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