Süddeutsche Zeitung

Geflüchtete:Waschen, schneiden, integrieren

Oberhachings Bürgermeister Stefan Schelle verzichtet beim Neujahrsempfang der Gemeinde auf seine Ansprache und lässt stattdessen eine Ukrainerin und einen Iraner erzählen, wie sie am Ort Zuflucht und Arbeit gefunden haben.

Von Iris Hilberth, Oberhaching

Einen Tag vor dem Neujahrsempfang ist Stefan Schelle noch mal zum Friseur gegangen. Ein Bürgermeister muss schließlich nicht nur etwas zu sagen haben, sondern auch ordentlich aussehen, wenn er vor 200 geladene Gäste aus seiner Gemeinde tritt. Besonders kompliziert ist der Oberhachinger Rathauschef nicht, wenn es um seine Haare geht, er ist auch nicht fixiert auf immer denselben Hair-Stylisten. Und so kam es, dass bereits im November Lilia Mikohaiylova des Bürgermeisters Haupt frisierte; vor knapp einem Jahr war sie aus der Ukraine gekommen. Und in dieser Woche schnitt ihm dann der Iraner Amir Esmaili die Haare - zwei junge Menschen in Oberhaching, beide mit Fluchterfahrung.

Und wie der Bürgermeister da so im Salon Belissima am Kirchplatz "vom Amir", wie er sagt, einen neuen Haarschnitt bekam, hatte er eine Idee. Ganz spontan, wie Schelle beteuert, lud er Mikohaiylova und Esmaili zum Neujahrsempfang am Donnerstagabend ins Rathaus ein. Nicht nur als Gäste, sondern zu ihm auf die Bühne, ans Rednerpult. Denn Schelle findet: "Wenn jemand über Mut und Zuversicht sprechen kann, dann die beiden." Sie haben die Einladung angenommen und zugleich die große Herausforderung, in der fremden Sprache vor so vielen Leuten zu sprechen, vor Publikum die eigene Geschichte zu erzählen. Aber beide sagen: "Es ist für uns eine große Ehre."

Der Iraner kam 2015 nach Deutschland. Mit dem Schlauchboot übers Mittelmeer: Türkei, Griechenland, dann zu Fuß. Angekommen in der Taglufthalle Oberhaching. Eigentlich ist Esmaili gelernter Buchhalter, doch seine Abschlüsse werden in Deutschland nicht anerkannt, die Sprachkenntnisse reichten am Anfang auch nicht aus. "Deutsch ist sehr schwer", findet Esmaili. "Der, die, das? Am Anfang war es für mich so wie es für Sie wäre, wenn Sie Chinesisch lernen würden", sagte er. Ein Freund brachte ihn schließlich auf die Idee, es als Friseur zu versuchen. Amir Esmaili fand eine Ausbildungsstelle, schloss die Lehre ab und lernte immer besser Deutsch. Inzwischen ist er 27 Jahre alt, bei Mandy Weedermann im Salon in Oberhaching angestellt und besucht die Meisterschule.

Amir Esmaili hofft, irgendwann eine eigene Wohnung zu finden

Eigentlich hätte er an diesem Abend des Neujahrsempfang Unterricht gehabt. "Marketing für den Friseursalon" stand auf dem Stundenplan. Die Gemeinde hat ihn dort entschuldigt, und Bürgermeister Schelle findet: "Es ist das beste Marketing, wenn er heute zu uns kommt." Esmaili sagt: "Wenn man will, kann man auch etwas erreichen." Die Oberhachinger hätten ihm dabei sehr geholfen und er sei sehr froh, dass er hier bleiben konnte. "Sie müssen ein großes Herz haben, dass sie so viele Leute hier aufgenommen haben." Jetzt lebt er in der Flüchtlingsunterkunft an der Holzstraße und hofft, irgendwann einmal eine eigene Wohnung zu finden.

Lilia Mikohaiylova kam im Januar 2022 aus Charkiw. Der Großteil ihrer Familie ist noch dort. Ihr Bruder, die Großeltern, Onkel, Tanten, auch die Schwägerin mit zwei kleinen Kindern. Nur ihre Mutter hat die Ukraine verlassen, später als sie, und ist daher in einer anderen Stadt untergebracht. Sie versucht, auf Deutsch zu erzählen, wenn es komplizierter wird, übersetzt Natalia Dumitru für sie. "Die russische Föderation bombardiert jeden Tag meine Heimatstadt", sagt sie, sie sei sehr froh über die Hilfsbereitschaft der Menschen hier, "wir sind ihnen nicht gleichgültig, sie haben die Tür ihres Hauses für mich aufgemacht. Ich bedanke mich, dass sie in den schwierigen Zeiten für mich da sind."

Um Geld zu verdienen, hat Mikohaiylova zunächst bei Friseurmeisterin Weedermann die Wohnung geputzt. Die Verständigung war schwierig, man wusste nicht viel voneinander. Erst als Weedermann fragte, ob die junge Ukrainerin vielleicht auch in ihrem Laden als Reinigungskraft arbeiten könne, stellte Mikohaiylova fest, dass es sich hierbei um einen Friseursalon handelt. Die 26-Jährige ist selbst gelernte Friseurin und hatte in der Ukraine in diesem Beruf gearbeitet, seit sie 18 war. "Ich habe auch viele Fortbildungen gemacht", sagt sie. "Mit Google-Übersetzung hat sie mir das erklärt und ich habe sie gebeten, mir einfach mal die Haare zu schneiden", erinnert sich Weedermann. Das habe dann so gut geklappt, dass sie die junge Frau aus Charkiw direkt eingestellt habe. Mit der Konversation sei es zwar manchmal noch etwas schwierig, das liege aber allein an der Sprache. "Inzwischen kommen auch viele Ukrainerinnen zu uns in den Salon, da merkt man dann, dass sie sehr gut mit den Kundinnen plaudern kann", sagt die Chefin.

Schelle hat den beiden seine Bühne überlassen, um ein positives Signal zu senden, "optimistisch in die Zukunft zu schauen", wie er sagt. "Wer jammert, kriegt keinen Besuch", weiß er von einem ehemaligen Bürgermeister aus Irschenberg. Er fordert seine Bürger auf, sich für "demokratische Werte" einzusetzen und Farbe für "Einigkeit, Recht und Freiheit" zu bekennen.

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