Sexueller Missbrauch:Es bleibt beim vagen Verdacht

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Was vor Jahren in einer Kita passiert ist, lässt sich schwer nachvollziehen. (Foto: Carsten Rehder/dpa)

2023 stellte sich heraus, dass in Oberhaching ein Erzieher arbeitet, der in Norddeutschland Kinder missbraucht haben soll. Das Rathaus leitete eine Untersuchung ein – und kommt nun zu dem Ergebnis, dass dem Mann in der Gemeinde keine Grenzüberschreitung vorzuwerfen ist. Konsequenzen will man aber trotzdem ziehen.

Von Iris Hilberth, Oberhaching

Es war ein entsetzlicher Verdacht, der die Menschen in Oberhaching erschütterte. Ein Erzieher, der seit Jahrzehnten erst in einem katholischen und dann in Gemeindekindergärten angestellt war, soll in den Achtzigerjahren in Norddeutschland Heimkinder missbraucht haben. Mehr als ein Jahr ist es her, dass eine Dokumentation in der ARD diese Fälle an der Ostsee thematisierte und klar wurde, dass derselbe Mann seit 1990 in Oberhaching arbeitete. Die Verunsicherung war groß, viele Gerüchte machten im Ort die Runde. Bürgermeister Stefan Schelle (CSU) versprach, allen Hinweisen nachzugehen und das Schutzkonzept zu überprüfen. Jetzt hat die Gemeinde die Ergebnisse ihrer Recherchen vorgelegt, und doch bleiben viele Fragen offen – auch weil viele Akten bloß fünf Jahre zurückreichen.

Den Stein ins Rollen gebracht hatte im Juli 2023 der Film „Verschickungskinder – Missbrauch und Gewalt bei Kinderkuren“ im WDR. Die Doku zeigte die erschütternden Schilderungen von Opfern auf der Suche nach der Wahrheit und nach Tätern von damals. Zu sehen war auch ein verpixeltes Foto eines Erziehers, dessen Vorname genannt wurde, und den ein Vater in Oberhaching mithilfe von „Google Search“ als einen aus den Gemeindekindergärten bekannten Erzieher identifizierte. Tiefes Misstrauen machte sich seither unter den Eltern breit: Gab es solche Fälle von sexuellem Missbrauch durch diesen Mann auch bei uns?

An diesem Montag, 15 Monate nach Bekanntwerden der Vorwürfe aus Norddeutschland, informierte Stefan Schelle erst den Gemeinderat und dann die Presse: „Der Gemeinde Oberhaching ist bis zum heutigen Tag kein einziger konkreter Fall bekannt, wonach in gemeindlichen Einrichtungen Kindern gegenüber sexuelle Grenzverletzungen oder Missbrauch stattgefunden hätte.“

In der Mitteilung aus dem Rathaus heißt es weiter: „Für die Fachaufsicht im Landratsamt waren im untersuchten Zeitraum keine Anhaltspunkte für eine Gefährdung von Kindern in den Einrichtungen der Gemeinde erkennbar.“ Zudem habe das Jugendamt das vorliegende Schutz- und Präventionskonzept sowie die Dienstpläne aller Kinderbetreuungseinrichtungen geprüft und der Gemeinde bescheinigt, dass es in der Zeit der Aufbewahrungsfrist der entsprechenden Akten zu keinem Zeitpunkt begründete Verdachtsfälle gegeben habe. Auch sei die Gemeinde Mutmaßungen oder Gerüchten stets sorgfältig nachgegangen, ohne dass dies jemals zu Erkenntnissen geführt hätten, dass konkrete Tatsachen vorliegen.

Allerdings beträgt die Aufbewahrungsfrist solcher Akten derzeit nur fünf Jahre. Alles, was davor möglicherweise vermerkt wurde, ist daher vernichtet. Im Fall dieses Erziehers also Dienstpläne aus fast dreißig Jahren. „Inzwischen habe ich angeordnet, die Akten zehn Jahre lang aufzuheben“, sagt Schelle. Noch allerdings wisse er nicht, ob der Datenschutzbeauftragte dies durchgehen lasse.

Laut Oberhachings Bürgermeister Stefan Schelle (CSU) gibt es keine Anhaltspunkte für Vergehen. (Foto: Claus Schunk)

Denn viele Erzählungen und Gerüchte über den inzwischen ehemaligen Erzieher, die bei einem Informationsabend der Gemeinde mit Oberhachinger Eltern im Juli 2023 angesprochen wurden, liegen viel weiter zurück. Es geht dabei meist um mögliche Vorfälle, die – wenn sie so stattgefunden haben – längst verjährt sind. Etwa dass der Erzieher ein Kind auf den Mund geküsst haben soll, dass bei Übernachtungsfahrten ein Kind bei ihm im Bett geschlafen habe, dass er mit einem nackten Kind auf der Toilette angetroffen worden sein soll oder ständig Kinder fotografiert habe. Was hat die Gemeinde davon gewusst und warum hat keiner etwas unternommen? Das waren die Fragen und Vorwürfe der Eltern. Eine Mutter war gar überzeugt: „Die wussten alles, machen aber nichts.“

Eine tatsächliche Aufklärung der Zeit vor der Fünfjahresfrist erscheint schwierig, wenn es keine Anzeige gegeben hat. Ermittlungen hat es, so bestätigte es Schelle vergangenes Jahr, nur einmal, und zwar 2018, gegeben. Damals habe ein Kind aus einem Gemeindekindergarten verstört gewirkt und Angst gehabt, weiter in die Einrichtung zu gehen. Es habe einen Penis gemalt und diesen auch als solchen benannt. Drei Mitarbeiter wurde daraufhin freigestellt, bei zwei erwies sich schnell die Unschuld, der dritte – jener Erzieher aus Norddeutschland – war zu dem Zeitpunkt krankgeschrieben. Die Staatsanwaltschaft München I bestätigte 2023 der SZ, dass es im Jahr 2018 ein Verfahren gegen den Mann „wegen eines Sexualdeliktes (möglicherweise ein Onanieren vor einem vierjährigen Kind)“ gegeben habe. Dieses sie jedoch mangels Tatnachweises im Oktober 2018 eingestellt worden.

Es gibt Gerüchte und Mutmaßungen, aber keine konkreten Aussagen

Was also kann eine Gemeinde tun, um tatsächlich lange zurückliegende mögliche Vorfälle aufzuklären, wenn nicht jemand ganz konkrete Aussagen macht, die über Gerüchte und Mutmaßungen hinausgehen, für die es laut Gemeinde auch durch sorgfältige Nachforschung weiterhin keine wirklichen Erkenntnisse gibt?

Oberhaching verweist in seiner Mitteilung nochmals auf das seit 2018 geltende Schutz- und Präventionskonzept, das durch konkrete Maßnahmen sicherstellen soll, dass sexueller Missbrauch oder andere Grenzüberschreitungen in den Einrichtungen von vornherein ausgeschlossen werden und bestimmte Situationen gar nicht erst entstehen. Die Einhaltung der Vorschrift würde penibel überwacht und dokumentiert, heißt es. Mitarbeiter würden zu den Themen Nähe und Distanz, Gewaltprävention und Schutz vor sexuellem Missbrauch geschult. Fälle von begründetem Verdacht ahnde die Gemeinde arbeitsrechtlich beziehungsweise bringe sie zur Anzeige, falls sie strafrechtlicher Natur seien. Auch müssten die Mitarbeiter regelmäßig ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen.

Der Bürgermeister beklagt sich, dass die Gemeinde nicht informiert wurde

Das war auch im Fall des unter Verdacht geratenen Erziehers einwandfrei, wie die Gemeinde 2023 bestätigte. Zwar hatte es in Norddeutschland Anzeigen gegen den Mann gegeben. Das geht aus einem Zwischenbericht der Kongregation der Franziskanerinnen vom hl. Märtyrer Georg zu Thuine zu den Vorwürfen über sexuelle Gewalt und körperliche Misshandlungen in den Kinderkurheimen aus dem Jahr 2022 hervor. Die Kongregation war Betreiber der Heime St. Antonius und St. Johann in Timmendorfer Strand-Niendorf und Sancta Maria auf Borkum. Die in Lübeck und Osnabrück angezeigten Vorwürfe der sexuellen Übergriffe in den Achtzigerjahren sind allerdings verjährt. Im Mai 2023 informierte der Orden das Erzbistum München-Freising. Seitdem sind dort die Vorwürfe und der Name des Mannes bekannt. Einen Hinweis, dass dieser nun in Oberhaching tätig war, gab es in dem Schreiben der Franziskanerinnen nicht. Die Gemeinde hatte bis zu dem WDR-Beitrag im vergangenen Jahr nichts davon erfahren, was Schelle jetzt kritisiert.

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Nachdem durch eine Fernseh-Doku herausgekommen ist, dass ein möglicher Kinderschänder jahrzehntelang als Erzieher in Oberhachinger Kitas tätig war, herrscht am Ort tiefes Misstrauen. Bürgermeister Schelle verspricht Aufklärung, doch Eltern werfen der Gemeinde vor, zu wenig unternommen zu haben.

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Er habe kein Verständnis dafür, dass die Gemeinde über die Verdachtsfälle in Norddeutschland nicht früher informiert wurde, so der Bürgermeister. „Weder der Orden der Franziskanerinnen noch andere Vertreter der Kirche noch die in Norddeutschland involvierte Staatsanwaltschaft beziehungsweise Polizei nahm Kontakt mit Oberhaching auf, um uns als den späteren Arbeitgeber zu informieren“, teilt er mit. Schelle findet: „Das können wir uns bei dem Thema nicht leisten.“ Kindesmissbrauch in jeglicher Form dürfe in unserer Gesellschaft keinen Platz haben. Wenn die jetzige Diskussion dazu beitrage, dass nur ein Missbrauchsfall dadurch verhindert werden könne, dann sei jeder Aufwand wertvoll.

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