Neubiberg:"Die Belastung ist enorm"

Lesezeit: 3 min

Hiltrud Coqui ist Mutter einer behinderten Tochter, die im Centrum Augustium lebt. Die Corona-Krise stellt betroffene Eltern und Kinder vor große Herausforderungen

Interview von Angela Boschert, Neubiberg

Seit mehr als zwei Monaten bestimmen Sonderregelungen wegen der Corona-Pandemie das tägliche Leben vieler Menschen. Unter den Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen leiden besonders die Bewohner von Senioren- und Pflegeheimen. Trotz Lockerungen bleibt es für sie schwierig. Betroffen sind aber auch Einrichtungen für geistig und körperlich beeinträchtigte Menschen. Wie es ihnen und ihren Angehörigen geht, darüber spricht die Neubibergerin Hiltrud Coqui, deren Tochter Sandra, 42, geistig behindert ist und im Heilpädagogischen Centrum Augustinum (HPCA) Hollern bei Unterschleißheim wohnt.

SZ: Frau Coqui, es gibt erste Lockerungen bei den Besuchsmöglichkeiten für Bewohner von beschützten Einrichtungen. Waren Sie schon bei Ihrer Tochter?

Hiltrud Coqui: Ich habe Sandra an den vergangenen zwei Sonntagen für je eine Stunde besucht. Wir haben uns irrsinnig gefreut, denn wir konnten uns ja Wochen nicht sehen. Unser langer Spaziergang im Wald hat Sandra sichtlich gut getan. Sie hat eine Chromosomentranslokation und kann nicht sprechen, aber ich sehe es an ihrem Gesichtsausdruck, ihren Bewegungen und an ihren Reaktionen auf meine Ansprache. Die Wochen davor waren für mich wahnsinnig schwer. Ich habe unter der Trennung gelitten, aber die Abschirmung der Bewohner in Hollern wegen Corona war und ist richtig. Sie müssen bedenken, dass Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen zum Teil kognitiv begrenzt verstehen können, warum sie ihre Angehörigen nicht in den Arm nehmen dürfen und - bei jetzt vereinzelt möglichen Besuchen - eineinhalb Meter Abstand halten sollen.

Ist Ihre Tochter denn besonders gefährdet, an Covid-19 zu erkranken?

Nein, meine Tochter Sandra ist ganz normal gefährdet.

Wie haben Sie mit Ihrer Tochter während der Besuchssperre Kontakt gehalten?

Ich habe Videos über meine Tochter erhalten und gesehen, dass sie glücklich ist. Dort herrscht eine gute Atmosphäre, die Betreuer machen das ganz toll in der Einrichtung. Sandra wohnt in einer Wohngemeinschaft mit sechs anderen Personen und einem Hund. Alle dürfen sich derzeit nur innerhalb ihrer Gruppe aufhalten. Das ist für die Betreuer zum Teil anstrengend, weil manche Klienten sehr mobil sind und die Notwendigkeit der Einschränkungen nicht ganz erfassen können.

Haben Sie Ihrer Tochter schon ein Video geschickt oder sich etwa über Skype gesehen?

Nein, ich habe mit den Betreuern besprochen, dass es vernünftiger ist, das zu lassen. Ich weiß nicht, wie Sandra einen Videofilm verstanden hätte. Telefoniere ich mit ihr, weint sie, daher machen wir das nicht. Ich will nichts auslösen, dessen Folgen ich nicht beeinflussen kann. Wir haben mit und für Sandra eine stabile Situation: Sie ist zufrieden. Nichtsdestotrotz zeigt sie Verhaltensweisen, an denen ich merke, dass sie vom Thema berührt ist. Doch jetzt können wir endlich wieder einmal pro Woche zusammen sein.

Reicht Ihnen beiden die eine Stunde Besuchszeit?

Wir wünschen uns mehr Zeit. Aber ich weiß, dass die Heime sich schützen müssen. Eine Erkrankung mit Covid-19 muss im HPCA mit allen Mitteln vermieden werden. Dennoch sollte es individuell erweiterte Lösungen geben. Aktivere Klienten möchten zum Friseur oder zur Fußpflege oder bräuchten dringend eine Physio- oder Ergotherapie-Stunde. Aktuell finden keinerlei Therapien statt. Mit ihren Angehörigen könnten sie das möglicherweise machen. Da muss sich etwas ändern. Aber ich fürchte, Heime und Wohnstätten werden die letzten sein, die geöffnet werden.

Sie sprechen als Gründungsmitglied des Arbeitskreises Eltern behinderter Kinder Neubiberg, den Sie zusammen mit Cornelia Scharnagl leiten. Wie können Sie den 70 Mitgliedsfamilien helfen?

Die gegenseitige Unterstützung ist aktuell stärker als vorher. Zwar können keinerlei gemeinsame Aktivitäten oder Ausflüge stattfinden, die für unsere Kinder so bedeutsam sind, aber es ist hilfreich, sich - zumindest telefonisch - untereinander Mut zuzusprechen oder auch mal richtig Wut abzulassen. Das braucht jeder Mensch. Schwierig ist es für die Eltern, die ihre Kinder nicht mehr in die Einrichtungen zurückbringen durften, als die Corona-Beschränkungen ausgesprochen wurden. Sie haben ihr Kind jetzt immer noch zu Hause, erhalten aber seit Wochen kaum Unterstützung durch Fachkräfte. Natürlich lieben sie ihre Kinder und kümmern sich gerne um sie. Doch ist die aktuelle Belastung durch die Krise enorm. Den Kindern fehlt ihre gewohnte Umgebung und Betätigung. Daher braucht es Regelungen, die eine zügige Rückkehr ermöglichen; ohne eine zweiwöchige Quarantäne, denn diese können Sie den Betroffenen kaum erklären.

Wie könnte das funktionieren? Haben Sie dazu eine Idee?

Ich denke, man könnte diese Menschen mehrmals auf Corona testen und sie dann bei mehreren negativen Tests eher zurück in die Einrichtung lassen. Man muss jeden Fall einzeln betrachten.

Damit würden dann die Angehörigen entlastet?

Nicht nur die. In Hollern genügen einigen Bewohnern die aktuellen Angebote in der Einrichtung, aber anderen, die täglich körperlich - etwa in der Gärtnerei - arbeiten, fehlt ihre Beschäftigung. Dort werden sie gefordert. Deswegen hoffe ich sehr, dass man für die Werkstätten eine Art Schichtbetrieb einrichtet, wenn nicht alle auf einmal kommen können. Denn diese Menschen brauchen die Herausforderung einer beruflichen Betätigung. Wir brauchen kreative Lösungen. Bedenken Sie, circa zehn Prozent der Bevölkerung sind in irgendeiner Art behindert, doch es werden häufig nur Alten- und Pflegeheime genannt. Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen werden als ebenso Betroffene aber vergessen. Sie müssen daher ins Bewusstsein der Menschen und der Politiker gelangen. Es ist nicht für alle einfach im Moment, aber wir lernen auch etwas.

© SZ vom 25.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: