Süddeutsche Zeitung

Ausbau von Taufkirchen:Problemviertel mit Bergblick

Vor 50 Jahren wurde in Taufkirchen der Ortsteil Am Wald mit vielen Sozialwohnungen aus dem Boden gestampft. Der Zuzug überforderte das Dorf. Aber Menschen wie Josef Zipf fanden hier eine neue Heimat.

Von Patrik Stäbler

Wo, bitteschön, liegt Taufkirchen? Das sei sein erster Gedanke gewesen, erzählt Josef Zipf, als er den Namen jener Gemeinde Ende der Sechzigerjahre im Wohnungsamt der Stadt München erstmals hörte. Der gelernte Schriftsetzer, im Glockenbachviertel aufgewachsen, lebte damals mit Frau und Tochter im Stadtteil Am Hart - in einer Sozialwohnung, die jedoch in einigen Jahren verkauft werden sollte. Deshalb war Zipf ins Wohnungsamt gekommen, wo ihm ein Mitarbeiter nun also einen Umzug nach Taufkirchen vorschlug. Dort würde im großen Stil gebaut, erzählte er dem jungen Mann. "Und er hat mir gesagt, dass das vielleicht meine letzte Chance sein wird, in absehbarer Zeit eine Sozialwohnung zu bekommen", erinnert sich Zipf.

Der Mann seiner Cousine - er selbst hatte ja kein Auto - fuhr ihn wenig später nach Taufkirchen, das damals noch ein Bauerndorf mit 1600 Einwohnern war. Zu sehen gab's dort nicht allzu viel, bis auf eine große, leere Fläche westlich der Bahngleise, wo 1968 die Bagger anzurollen begannen. Schon zwei Jahre danach - heuer vor einem halben Jahrhundert - zogen die ersten Bewohner in den Ortsteil Am Wald, der seinen Namen freilich erst später erhielt.

Im März 1971 fand auch die Familie von Josef Zipf dort eine neue Heimat: zweieinhalb Zimmer am Ahornring, achter Stock, "mit einem Bergblick vom Chiemgau bis zur Zugspitze", schwärmt der heute 81-Jährige. "Ich habe immer gesagt: Allein die Aussicht ist hundert Mark Miete wert." Ließ er seinen Blick damals jedoch nach unten wandern, sah er Bagger, Baugruben und Arbeiter, so weit das Auge reichte. "Es war eine riesige Baustelle, aber sonst gab's nicht viel", erzählt Zipf. "Wir hatten eine Holzbaracke zum Einkaufen, eine Bank in einer Baracke und ein Bushäuschen in einer Baracke. Und das war's."

Die Einwohnerzahl schnellte nach oben

Was es aber schon bald in Hülle und Fülle gab, waren Menschen: Bis 1972 entstanden auf dem weitläufigen Areal circa 500 Einfamilienhäuser und 3400 Geschosswohnungen, viele davon in Hochhäusern mit bis zu 15 Stockwerken. Die Folge: Binnen kürzester Zeit schnellte die Einwohnerzahl Taufkirchens von 1600 auf mehr als 10 000 Menschen nach oben. Damit einher ging ein drastischer Wandel des einstigen Bauerndorfs, den auch viele andere Orte im Landkreis vollzogen haben - jedoch keiner so rasant und abrupt wie Taufkirchen. Dort stellte die aus dem Boden gestampfte "Trabantenstadt", wie es 1968 in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung hieß, die Gemeinde nicht nur vor immense finanzielle und soziale Probleme. Sondern bis heute gibt es auch, vorsichtig ausgedrückt, Animositäten zwischen den Bewohnern von Alt-Taufkirchen und Wald-Taufkirchen.

"Es ist in den vergangenen fünfzig Jahren viel passiert, was das Zusammenwachsen gefördert hat", sagt Heimatpfleger Michael Müller, der anlässlich des 50. Geburtstags des Ortsteils Am Wald zu dessen Geschichte recherchiert und mit Zeitzeugen gesprochen hat. "Und trotzdem ist es heute noch so, dass die Bewohner von Alt-Taufkirchen von 'denen da drüben' sprechen - und die Bewohner Am Wald von 'denen da hüben'." Diese Zweiteilung wurzelt in der Historie der Siedlung, deren Ausgangspunkt der 1968 beschlossene "Münchner Plan" gewesen sei, erzählt Müller. In diesem habe sich die Landeshauptstadt verpflichtet, bis 1973 jährlich 7000 Wohnungen zu bauen, um gegen die grassierende Wohnungsnot anzukämpfen. Da es in München kaum freie und bezahlbare Flächen gab, richtete das dortige Rathaus seinen Blick über die Stadtgrenzen hinaus - gen Süden. Dort sollte die städtische Gemeinnützige Wohnungsfürsorge AG, kurz Gewofag, neuen Wohnraum schaffen, und zwar in Unterhaching schwerpunktmäßig Eigentums- und in Taufkirchen vorwiegend Sozialwohnungen.

Diese Pläne hätten in Taufkirchen heftige politische Diskussionen ausgelöst, erzählt Müller - schließlich brauchte es für das Vorhaben der Stadt München grünes Licht vom dortigen Gemeinderat. Mit einer Mehrheit von sechs zu fünf Stimmen beschloss das Gremium 1966, eine Fläche von circa einer Million Quadratmeter zwischen Perlacher Forst und den Bahngleisen als Bauland auszuweisen. Es war dies eine Entscheidung, die so wegweisend für den Ort war wie keine andere in seiner Historie. 1967 schloss die Gemeinde einen Erschließungsvertrag mit der "Bauträgergemeinschaft Taufkirchen", bestehend aus Gewofag und der Terrafinanz Wohnbau.

20 Millionen Mark für Nachfolgelasten

Die Bauträger verpflichteten sich darin, 20 Millionen Mark für die Nachfolgelasten bereitzustellen - also für Kindergärten, Schulen, Friedhof, Feuerwehr und einiges mehr, was infolge des massiven Zuzugs gebaut oder erweitert werden musste. Doch es zeigte sich bald, dass diese Summe hinten und vorne nicht ausreichen würde. Und so geriet die Gemeinde, deren Haushalt kurz zuvor nur ein Volumen von 700 000 Mark umfasst hatte, in arge finanzielle Probleme. "Über Taufkirchen", sagte 1973 der ein Jahr zuvor gewählte Bürgermeister Walter Riedle (CSU), "kreist der Pleitegeier."

Die neue Siedlung wurde derweil im Rekordtempo hochgezogen - "und das hat die Gemeinde überfordert", sagt Müller. "Das hört man bei allen Gesprächen mit Zeitzeugen heraus." Zugleich verweist der Heimatpfleger auf das "große ehrenamtliche Engagement", das in dem neuen Ortsteil zutage trat - und von dem auch Josef Zipf zu berichten weiß. "Wir haben Taufkirchen vom ersten Tag an angenommen und uns eingebracht", sagt er. So gehörte Zipf zu den Initiatoren einer Bürgerinitiative, die sich gegen steigende Gewofag-Mietpreise einsetzte. Zudem engagierte er sich in der 1971 gegründeten DJK Taufkirchen, war Vorsitzender der Volleyball- und später der Tennisabteilung. Neben dem Sportverein hätten vor allem die Nachbarschaftshilfe und die Kirchengemeinden dazu beigetragen, das gesellschaftliche Leben in der Siedlung anzukurbeln und ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen, sagt Michael Müller. So wurde 1971 das evangelische Gemeindezentrum der Jerusalemkirche eröffnet; 1975 weihte Julius Kardinal Döpfner die katholische Kirche Sankt Georg am Lindenring ein.

Bei allem ehrenamtlichen Engagement blieben soziale Konflikte aber nicht aus in dem neuen Ortsteil, der circa 2000 Sozialwohnungen beheimatete. Vor allem in den Neunzigerjahren haftete der Siedlung der Ruf eines Problemviertels an. Viele machten dafür auch die Belegungspraxis der Gewofag-Wohnungen durch die Stadt München verantwortlich, die zu einem wachsenden Armuts- und Migrationsanteil geführt hatte. Die Gemeinde versuchte auf viele Weise gegenzusteuern - zuletzt etwa über die Fachstelle für Integrationsbezogene Soziale Arbeit (Isa) sowie über das Städtebauförderprogramm Soziale Stadt.

Auch Josef Zipf kann viel erzählen über die früheren und heutigen Probleme in seinem Viertel. Und doch hat er nie daran gedacht, aus seiner Wohnung im Ahornring auszuziehen. Vor 50 Jahren wusste er noch nicht einmal, wo Taufkirchen genau liegt. Heute jedoch sei die Gemeinde, sagt Josef Zipf, "zu meiner Heimat geworden".

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5161321
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 31.12.2020/belo
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.