Stadtführung mit "Biss":Herr Zimmermann und sein Weg aus der Armut

Lesezeit: 4 min

Moshammer, Fahrradmechaniker und ein Knast: Verkäufer der Straßenzeitung "Biss" zeigen in einer Stadtführung in München, wie sie der Obdachlosigkeit entkommen sind.

Petra Markovic

Vor einem Grab im Ostfriedhof bleibt Christian Zimmermann stehen und faltet seine Hände. Er blickt auf drei weiße Marmorsteine herab, auf denen sieben Namen eingemeißelt sind. Es sind die Namen seiner früheren Kollegen. Es sind die Namen verstorbener Biss-Verkäufer.

Christian Zimmermann bei seiner Stadtführung im Ostfriedhof. Im Hintergrund sind die Weißen Grabsteine der Biss-Grabstätte zu sehen. (Foto: Robert Haas)

Das Grab am Ostfriedhof ist eine der Stationen, die Zimmermann bei seiner Stadtführung von Biss ansteuert. Es ist eine besondere Führung, die München nicht von der prachtvollen, reichen Seite zeigt, sondern von der armen - und von seiner hilfsbereiten. Es ist eine Stadtführung über die Straßenzeitung Biss.

Denn Biss ist mehr als nur eine Straßenzeitung, die ihren Verkäufern ein kleines Einkommen bringt. Sie unterstützt Menschen seit 17 Jahren dabei wieder zurück in ein geregeltes Leben zu finden, vermittelt Wohnungen, hilft bei der Weiterbildung, bei der Suche nach einem Arbeitsplatz und bei der Entschuldung von Bürgern, die in sozialen Schwierigkeiten stecken.

Auch der Stadtführer selbst hat es durch Biss aus der Obdachlosigkeit geschafft. Wenn er erzählt, schimmern seine braunen Augen traurig - selbst, wenn er lacht. Früher, vor seinem Absturz, reiste er mit seiner Frau und seinen vier Kindern durch Europa. Er war als Goldschmied tätig.

Sein bester Freund liegt im Grab

Doch dann zerbricht die Ehe. Zimmermann rutscht ab. Dem Goldschmieden kann er bis heute nicht nachgehen, zu viele Erinnerungen hängen daran. Ohne Beruf, ohne geregeltes Leben führt die Spirale schnell nach unten. Zimmermann trinkt, um den Schmerz zu betäuben. Dann lernt er den Straßenzeitungsverkäufer Jürgen Muck kennen.

"Jürgen Muck" ist einer der Namen, die auf den Grabsteinen stehen. Muck war Christian Zimmermanns bester Freund. Vor vielen Jahren hatte der Mann Zimmermann von Straße aufgelesen, ließ den damals Obdachlosen bei sich wohnen und vermittelte ihn an Biss. Zimmermann versuchte sich als Zeitungsverkäufer und nach wenigen Wochen wusste er, dass das Zeitungsverkaufen genau sein "Ding" war. Es machte ihm Spaß, half, die Leere in ihm zu füllen.

Christian Zimmermann geht die Namen auf den Grabsteinen durch. Er erzählt eine Geschichte zu jedem einzelnen Namen: Geschichten vom Abstieg. Viele Wege führen nach unten. Doch er erzählt auch vom Kampf, vom harten Weg zurück ins Leben.

Beim letzten Namen stockt er. Andächtig blickt er auf die frischen Blumen herab, bevor er seine Stimme wieder erhebt. Er spricht nun langsamer, flüstert fast. "Hier liegt mein geschätzter Kollege Carl-Wilhelm Sachse. Er hat die zweite Biss-Führung gemacht. Vergangenen Mittwoch wurde er begraben", sagt er. Seither übernimmt Zimmermann auch die Führungen seines verstorbenen Kollegen.

Am Ostfriedhof macht die Gruppe noch bei einem weiteren Grab halt: beim Rudolph-Moshammer-Mausoleum. Der Modeschöpfer war bekannt dafür, dass er soziale Projekte enorm unterstützt hat. Und das nicht nur finanziell.

"Es gab einmal einen Biss-Verkäufer in Rosenheim. Sein Geschäft wollte nicht so richtig anlaufen." Als Moshammer davon erfahren hat, sei er sofort mit seinem Rolls Royce hingefahren, habe sich in Rosenheim auf die Straße gestellt und die Biss verkauft.

Diese Aktion hatte große Wirkung: Der Biss-Verkäufer habe sich über mangelnden Umsatz nicht beklagen können. Und das war nur ein Beispiel für Moshammers Einsatz, erzählt Zimmermann. Ihm ist die Begeisterung über Moshammer anzusehen, lebhaft erzählt er von weiteren Aktionen des Modeschöpfers.

Weg von der Straße - mit dem Fahrrad

Eine weitere Station des Spaziergangs Rund um den Ostbahnhof ist der "Dynamo Fahrradservice". Der Laden mit Recycling- und Reparaturwerkstatt bietet 22 Arbeitsplätze und hilft Langzeitarbeitslosen wieder in ein geregeltes Leben hineinzufinden. Hier werden junge Menschen ausgebildet, ältere umgeschult. Zur Bürokauffrau, oder zum Zweiradmechaniker.

Wie Herr Cwetko, zum Beispiel. Er war viele Jahre als Selbstständiger tätig - bis eine Psychose sein Leben veränderte. Mehrere Monate war er in einer geschlossenen Anstalt, musste seine Firma aufgeben, hatte Steuerschulden und auf Grund der Diagnose wurde ihm auch noch sein Führerschein entzogen.

Bei "Dynamo" schulte er um und machte seinen Meister als Zweiradmechaniker. Mittlerweile hat er auch wieder einen Führerschein - finanziert durch Spenden von Biss-Lesern.

Er zeigt den Teilnehmern der Stadtführung die Werkstatt, die Lager- und Verkaufsräume, erklärt, wie die Firma funktioniert. Ruhig, mit gemächlichem Schritt begleitet er die Teilnehmer durch den Laden, macht hier und da halt.

Ein runderneuertes Fahrrad kostet 125 Euro. "Natürlich bekommen Sie für das Geld anderswo ein fabrikneues Fahrrad. Das ist aber, als ob Sie einen neuen Dacia mit einem Mercedes vergleichen wollten", erklärt Herr Cwetko.

Ein Gefängnis soll Jugendlichen Hoffnung geben

Das alte Frauengefängnis Neudeck am Nockherberg ist die letzte Station der Stadtführung. Das Gebäude soll zu einem Vier-Sterne-Hotel umgebaut werden - zumindest, wenn es nach Biss geht. Es ist das erste "Jugendprojekt" von Biss. Im Hotel sollen 40 Ausbildungsplätze für Jugendliche, die schon früh auf die schiefe Bahn geraten sind, entstehen.

Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg. Das Gebäude muss umgebaut und saniert werden. Doch nicht nur Hotelgäste werden hier wohnen. Es sollen auch einige Wohnungen für ehemalige Biss-Verkäufer, die in Rente gegangen sind, entstehen. Sie können die jungen Leute unterstützen. "Heutzutage haben sich die Generationen viel zu sehr voneinander entfernt. Dabei können doch beide Seiten voneinander lernen", sagt Zimmermann.

Die Gitterstäbe vor den Fenstern des ehemaligen Gefängnisses sollen entfernt werden - bis auf wenige Ausnahmen: "Wir wollen daran erinnern, was früher einmal gewesen ist", sagt Zimmermann. So wie er an seine eigene Vergangenheit erinnert. Jeden Dienstag um zehn Uhr.

Die Führung "Biss und Partner" wird von Biss e.V. ausgerichtet. Im Wechsel mit der Führung "Wenn alle Stricke reißen..." findet sie dienstags um 10 Uhr statt. Treffpunkt ist das Biss-Büro in der Metzstraße 29 (Achtung! "Wenn alle Stricke reißen..." beginnt am Wohnungsamt, Franziskanerstr. 8). Die Tour kostet zehn Euro (ermäßigt drei Euro). Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.

© sueddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: