Mordfall Böhringer:Ein Freund hinter Gittern

Nach dem Mord an Charlotte Böhringer wird ihr Neffe Bence T. verurteilt. Schulfreund Jochen Pirnat kämpft bis heute für seine Freilassung.

Anna Fischhaber

Ein junger Mann wird des Mordes angeklagt. Seine Freunde halten das für ein absurdes Versehen. Kann die Justiz so irren und einen Unschuldigen lebendig hinter Gittern begraben?

Fall Böhringer, Bence T., dpa

Bence T. wurde für den Mord an seiner Tante Charlotte Böhringer zu lebenslanger Haft verurteilt. Seine Freunde stehen dennoch hinter ihm - und sind von seiner Unschuld überzeugt.

(Foto: Foto: dpa)

Vier Jahre ist es her, dass Charlotte Böhringer brutal ermordet wurde. Seit 2006 sitzt ihr Neffe Bence T. dafür lebenslänglich im Gefängnis. Bis heute beteuert er seine Unschuld. Der Indizienprozess erregte großes Aufsehen. Der Dokumentarfilm Anklage Mord. Ein Freund vor Gericht, den nun der BR zeigt, schildert den Fall aus Sicht der Freunde. Eine Gruppe junger Menschen, alle studiert und mitten im Leben, hält fest zu Bence T. Unter ihnen ist auch Betriebswirt Jochen Pirnat, 35. Bis heute kämpft er um die Freilassung seines Schulfreundes.

sueddeutsche.de: Heißt lebenslänglich für Bence T. auch lebenslänglich für Sie, Herr Pirnat?

Jochen Pirnat: Nach wie vor vergeht kein Tag, an dem ich nicht an Bence denke. Der Fall ist Teil meines Alltags geworden. Manche Freunde können nicht nachvollziehen, dass ich so viel Zeit und Energie investiere. Aber für mich gehört das zu einer Freundschaft dazu.

sueddeutsche.de: Hatten Sie nie Zweifel an seiner Unschuld?

Pirnat: Ich weiß, was Bence für ein Mensch ist und traue ihm so eine brutale Tat einfach nicht zu. Dazu kommt der Prozess. Es sind so viele Fragen offen geblieben. Die Anklage hat sich nur auf Indizien gestützt. Viele kann man so auslegen, wie es das Gericht letztlich gemacht hat. Man kann es aber auch so sehen wie die Verteidigung.

sueddeutsche.de: Und wenn Bence T. doch der Mörder wäre?

Pirnat: Natürlich beschäftigt man sich damit, was wäre wenn. Gerade in der Anfangszeit. Ich bin für mich zu dem Schluss gekommen, dass das für mich nichts ändern würde. Er wäre der gleiche Mensch, der in einer Extremsituation einen Aussetzer gehabt hätte. Ich bin überzeugt von seiner Unschuld, aber das war nicht entscheidend für meine Unterstützung.

sueddeutsche.de: Sie haben Bence T. während des 15-monatigen Prozesses begleitet. Hat das das Urteil beeinflusst?

Pirnat: Ich war bei über der Hälfte der 93 Verhandlungstage dabei. Uns Freunden war klar, dass immer einer im Publikum sitzen muss, um ein Zeichen zu setzen. Wir sind aufgestanden, wenn Bence den Gerichtssaal betreten hat, um zu zeigen, dass wir hinter ihm stehen. Ich denke schon, dass das beim Gericht Eindruck gemacht hat. Aber verändert hat es nichts.

sueddeutsche.de: Was haben Sie vor Gericht erlebt?

Pirnat: Die schockierendste Erkenntnis für mich war, dass so etwas eigentlich jedem passieren kann. Wenn die Mühlen der Justiz angefangen haben zu mahlen, kommt man da nicht wieder raus. Vor Gericht war es sehr bedrückend. Man muss lernen, sich zu beherrschen, wenn man so involviert ist. Ich war oft wütend. Zum Beispiel die digitale Tatortanalyse: Warum sollte der Linkshänder Bence für die letzten vier Schläge auf die rechte Hand gewechselt haben. Aus Ermüdungserscheinungen? Bei so einer Tat?

sueddeutsche.de: Fühlt man sich als Freund da nicht sehr hilflos?

Pirnat: Total hilflos. Ein Gegner war ja nicht greifbar. Wir hatten weder einen anderen Verdacht noch konnten wir gegen jemanden vorgehen. Es gab so viele. Das Gericht, den Staatsanwalt, die Polizei, die Boulevardpresse. Wir Freunde haben dann nach Zeugen gesucht. Der Mord passierte an einem Montagabend mitten in der Stadt. Jemand muss etwas gesehen haben. Wir haben Zettel ausgehängt und eine Belohnung ausgesetzt. Aber zwei Jahre nach so einer Tat ist es natürlich schwierig, jemanden dazu zu bringen, sich zu erinnern. Aber zumindest haben wir gezeigt, dass wir für unseren Freund kämpfen.

"Für mich ist eine Welt zusammengebrochen"

sueddeutsche.de: Wie hat sich Ihre Beziehung untereinander dadurch verändert?

"Anklage Mord. Ein Freund vor Gericht"

Die Freunde von Bence T. halten bis heute zu ihm: Matthi, Frauke, Simone und Jochen (von links) geben nicht auf.

(Foto: Foto: BR)

Pirnat: Sie ist sehr viel intensiver geworden, offener. Man hört ja oft, dass sich Freunde in so einem Fall distanzieren. Wir sind enger zusammengerückt. Wenn ich für mich aus dem Ganzen etwas Positives ziehen kann, dann ist das diese Erfahrung. Wenn mir in meinem Leben etwas Schlimmes passiert, weiß ich, da sind Leute, die zu mir stehen. Das gibt mir Sicherheit.

sueddeutsche.de: Können Sie sich noch an den Tag des Urteils erinnern?

Pirnat: Ich war einer der ersten, der den Saal verlassen musste. Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass es zum Freispruch kommt. Mit einer Verurteilung habe ich nicht gerechnet. Für mich ist eine Welt zusammengebrochen.

sueddeutsche.de: Während des Prozesses hat Regisseurin Daniela Agostini Sie mit der Kamera begleitet. Wie haben Sie die Dreharbeiten erlebt?

Pirnat: Ich musste mich überwinden, die Kamera zuzulassen. Aber ich musste mich dadurch auch damit auseinandersetzen. Das war auch eine Form der Verarbeitung.

sueddeutsche.de: Was sollen die Zuschauer mitnehmen?

Pirnat: Wir geben Bence ein Gesicht, obwohl er nicht im Film mitspielt. Im Prozess wurde er nur als der kalkulierende, der brutale, der verzweifelte, der habgierige Täter dargestellt. Der Bence, den ich kenne, ist herzlich und warm. Seine Freunde sind ihm wichtig und er ist ihnen wichtig. Das sieht man. Ich hoffe, dass bei den Zuschauern, die den Prozess verfolgt haben, Zweifel aufkommen. Aber es ist wohl illusorisch zu glauben, dass ein öffentlicher Aufruhr entsteht und sich das Gericht verantworten muss.

sueddeutsche.de: Hat Bence T. den Film schon gesehen?

Pirnat: Seit kurzem hat er einen Fernseher in seiner Zelle. Er wird den Film am Samstag auch zum ersten Mal anschauen.

sueddeutsche.de: Wie sieht seine Situation heute aus?

Pirnat: Bence versucht seinen Alltag im Gefängnis so zu gestalten, dass er für sich Kraft findet, weiterzukämpfen. Die Revision wurde abgelehnt, die Beschwerde vor dem Verfassungsgericht auch. Der nächste und wohl letzte Schritt ist die Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Um zu zeigen, dass wir alle Möglichkeiten ausgereizt haben.

sueddeutsche.de: Haben Sie noch Hoffnung?

Pirnat: Hoffnung habe ich seit dem Urteil keine mehr. Für mich hat das juristische System versagt in diesem Fall. Die einzige Möglichkeit ist, dass man durch einen Zufall den tatsächlichen Täter findet. Ich wünsche mir so sehr, dass Bences Unschuld festgestellt wird und er wieder zu uns kommt.

Der BR zeigt den Film Anklage Mord. Ein Freund vor Gericht von Daniela Agostini am Samstag, 22.5.2010, um 22.10 Uhr.

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