Nach zehn Minuten am kalten Bahnsteig in Furth verfolgen die Fahrgäste den roten Sekundenzeiger. Sie beugen sich vor, um nicht zu verpassen, wenn die Lichter der S 3 im dunstigen Licht des Nachmittags erscheinen. Nichts. Die meisten haben den Blick im Smartphone versenkt, tippeln, weil die Kälte in die Schuhe kriecht. Dann rollt der rote Zug an. Es formieren sich Trauben, bereit zum Einsteigen.
Doch statt in der Mitte des Bahnsteigs zu halten, fährt der Zug bis ganz nach vorne. Die Wartenden stöhnen auf, rennen los. Kurz bevor der Pulk die S-Bahn erreicht, setzt sich diese wieder in Bewegung und lässt die etwa 20 Fahrgäste am Bahnsteig zurück. Die können es kaum glauben: "Ist der besoffen?", fragt eine Frau und meint den Zugführer.
Allgemeines Kopfschütteln. Die Empörungswelle ebbt ab. Die meisten versenken den Blick wieder tief im Smartphonedisplay. Das eigene Handy hat sich gerade abgemeldet, Akku leer. Fantastisch, bis die nächste Bahn kommt, dauert es 20 Minuten. Nur ein anderer Fahrgast hat den Kopf nicht zu den wischenden Händen geneigt. "Furth lädt doch zum Verweilen ein", sagt der junge Mann mit süffisantem Unterton. Drumherum weiße Ödnis. Die 20 Minuten Wartezeit genügen, um zu erfahren, dass er eine Ausbildung zum Psychotherapeuten macht und gerade von einem Aufenthalt in Bangladesch zurückgekommen ist. Spannend.
Der nächste Zugführer nimmt das Wort Haltestelle ernster und stoppt in der Mitte des Bahnsteigs. Mit der neuen Bekanntschaft vergeht die Fahrt bis Giesing in ICE-Geschwindigkeit. Aber nach einer halben Stunde Gesprächsstoff einfach nach dem Namen zu fragen, wäre irgendwie ungeschickt rübergekommen. Oder nicht? In der Prä-Smartphone-Epoche war man in dieser Art sich kennenzulernen wohl noch geübter.