Mitten in Oberhaching:Schatzkarte ohne Wert

Eichhörnchen haben einen prächtigen Orientierungssinn. Aber wenn sich in ihrer Welt die Koordinaten ändern, steuern sie auf einen harten Winter zu

Glosse von Michael Morosow

Eichhörnchen mögen mit einem nur haselnussgroßen Hirn ausgestattet sein, doch sind sie gesegnet mit einem übermenschlichen Gedächtnis. Die findigen Baumbewohner sind in der Lage, im Herbst Tausende Samen, Eicheln, Bucheckern, Fichtenzapfen und Nüsse im näheren Umkreis ihrer Hochparterrewohnung zu verstecken, um die meisten im Winter problemlos wiederzufinden, selbst unter Eis und Schnee. Wer weiß, wie zermürbend lange er mehrmals schon die direkt vor seinen Augen im Kühlschrank versteckte Butter hat suchen müssen, der würdigt umso mehr die denkwürdige Leistung des possierlichen Nagers. Im Memory-Spiel würde unsereins gnadenlos abgefieselt werden von einem Sciuris vulgaris, der in diesen Tagen mächtig zu tun hat. Anders als der faule Igel, der sich im Herbst kugelrund futtert, um sich dann zum Winterschlaf zu betten, machen Eichhörnchen das Jahr durch und bedienen sich daher winters aus den Vorratskammern, die sie aktuell mit Hingabe füllen.

Im linken Nachbarsgarten ist ein Eichhörnchen seit Tagen mit nichts anderem beschäftigt. Vielleicht wird der Winter lang und kalt, jedenfalls hat das schnuckelige Kerlchen, braun mit schwarzem Oachkatzlschwoaf, auch im rechten Nachbarsgarten mehrere Filiallager angelegt. Besser zu viel als zu wenig, denkt er wohl. Es wäre für ihn vielleicht besser, er würde sich mit dem Igel zum Schlafen legen, dann müsst er nicht miterleben, was mit seinen unterirdischen Vorratskammern bald geschehen wird. Der Nachbar baut sich ein Haus hier in Oberhaching, schon im Oktober werden die Bagger anrollen und eine Baugrube ausheben. Die vielen im haselnussgroßen Hirn gespeicherten Koordinaten - Eicheldepot: A5, Samenlager; C4 - kann das Eichhörnchen jetzt getrost vergessen. Seine Schatzkarte hat keinen Wert mehr, sobald die Baggerschaufeln und das Erdreich mitsamt Vorratslagern auf den Kipper werfen. Aber es weiß ja noch nichts von seinem Pech, der Bauherr hat das Eichhörnchen nicht vorgewarnt. So wird das arme Ding weiter mit Verve seine Depots füllen, und seinen Fehler erst bemerken, wenn es zu spät ist.

Vielleicht ist der Bauherr aber zu einer Ersatzleistung bereit, indem er einen Eichhörnchen-Futterkasten an einen Baum hängt. Denn eines sollte er wissen: Eichhörnchen vergessen nichts.

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