Süddeutsche Zeitung

Migranten in München (11): Fatima Talal Saber:Stipendium statt Ausweisung

Sie hatte ständig Angst, Deutschland wieder verlassen zu müssen - jetzt hat Fatima Talal-Saber ein Stipendium bekommen, ist eine der Klassenbesten.

S. Peteranderl

Volljährig zu werden, war für Fatima Talal-Saber ein Schock: Sie bekam den Bescheid, dass sie ausgewiesen werden soll, zu Verwandten in den Irak - in ein Land ohne Zukunft, die Heimat ihrer Eltern, wo Fatima nie gelebt hatte, da sie auf der Flucht im iranischen Esfahan geboren worden ist. Fatima spricht fließend Deutsch, hatte sich bis aufs Gymnasium hochgekämpft, engagierte sich. Während ihre Eltern und Geschwister eine befristete Aufenthaltsgenehmigung erhielten, da ihre psychischen Probleme, Folgen der Flucht, nur in Deutschland behandelt werden können, sollte Fatima ausgewiesen werden.

Zwei Monate lang hatte Fatima Angst davor, zwei Monate lang dauerte der verwirrende Schwebezustand. Eine Anwältin setzte dann doch noch eine Aufenthaltsgenehmigung für ein Jahr, bis April 2011, durch.

Mit dieser Genehmigung konnte sich Fatima im vergangenen Jahr für das Stipendium "Talent im Land Bayern" (TiL) bewerben - denn der dauerhafte Aufenthalt in Deutschland ist dafür Voraussetzung. Das Programm des Bayerischen Kultusministeriums und der Robert-Bosch-Stiftung fördert begabte junge Menschen aus Zuwandererfamilien, die das Abitur oder das Fachabitur machen wollen - mit finanzieller Unterstützung, einem umfangreichen Weiterbildungsangebot und karrierefördernden Kontakten. "Wir unterstützen tolle Persönlichkeiten mit herausforderndem sozialen Hintergrund", sagt Tobias Haaf vom Kultusministerium. Gute Noten sind zwar wichtig, doch ausschlaggebend sind das Leistungspotential, das gesellschaftliche Engagement und die individuelle Biografie. 200 bis 250 Interessenten bewerben sich pro Jahr, nur 30 bis 50 werden ausgewählt - und Fatima hat es unter die 30 neuen Stipendiaten geschafft.

Ihren bisherigen Weg in einem dreiseitigen Lebenslauf zu beschreiben, war für die inzwischen 20-Jährige eine schwierige Herausforderung der Bewerbung - denn sie hat schon zu viel erlebt. Fatimas Eltern sind Iraker, sie flüchteten nach Iran, da der Vater als Journalist zu offen geschrieben hatte, was er dachte. Eine Aufenthaltsgenehmigung erhielt die Familie dort nie. Als Fatima in der dritten Klasse war, musste die Familie Iran verlassen, gelangte erst nach Kurdistan, dann ging es immer weiter.

Dreieinhalb Jahre lang war Fatima mit ihren Eltern und den jüngeren Geschwistern auf der Flucht. Als ein Schlauchboot voller Flüchtlinge bei einer Flussüberquerung einmal kenterte, wäre Fatima beinahe ertrunken - ein Mann konnte die damals Elfjährige gerade noch mit einem Ast ans Ufer ziehen. Fatima schrie und weinte, da sie dachte, ihre Familie sei tot, der Flüchtling hielt ihr den Mund zu, aus Angst, entdeckt zu werden. Doch Fatimas Vater, der als einziger schwimmen konnte, hatte es geschafft, den Rest der Familie ans Ufer zu ziehen.

Auch Fatimas kleiner Bruder hätte die Flucht fast nicht überlebt. Nach einer Nachtwanderung durch die Berge war der Körper des Babys starr vor Kälte, die Eltern konnten ihn gerade noch rechtzeitig wärmen. Wo genau die Flucht-Route der Familie verlief, weiß Fatima nicht - auf jeden Fall durch Länder wie Iran, Kurdistan, Türkei, Griechenland, Italien. "Immer hin und her", sagt sie. Die Familie wurde von einem Land ins andere ausgewiesen. Ein paar Tage mussten die Flüchtlinge zwischendurch auf der Straße übernachten, ein paar Tage waren sie in der Türkei inhaftiert.

Als Fatima zwölf Jahre alt war, gelang der Familie die Flucht nach Deutschland . "Wir haben nicht mitbekommen, wo wir waren", erinnert sich Fatima. Sie mussten immer leise sein. Als Fatimas Schwester bei einem Zwischenstopp in einer Wohnung niesen musste, reagierten die Schlepper aufgebracht. Irgendwo in Deutschland wurden die Flüchtlinge abgeladen, die Familie fuhr mit dem Zug nach München. Eine Aufenthaltsgenehmigung erhielten sie auch hier nicht, aber zumindest zwei Zimmer in einer Flüchtlingsunterkunft. Und die Kinder konnten endlich wieder zur Schule gehen.

Ein Grundschuljahr absolvierte Fatima noch in einer Übergangsklasse, in der Zweit-, Dritt- und Viertklässler zusammengewürfelt wurden, alles wiederholt und der Unterricht viel einfacher gestaltet wurde. "Es war eine harte Zeit, zu wissen, dass ich nichts kann", sagt Fatima. Mittlerweile hat sie es in die 11. Klasse geschafft, ist eine der Klassenbesten und macht im kommenden Jahr ihr Abitur - danach will sie Medizin studieren.

Diesen Plan fasste sie schon während der Flucht, doch ihr war klar, dass sie ohne Gymnasium keine Chirurgin werden kann. "Die Lehrer waren alle dagegen, aber ich wusste, dass ich es schaffe, weil ich so ehrgeizig bin." Aus einer Telefonzelle rief Fatima in gebrochenem Deutsch beim Lion-Feuchtwanger-Gymnasium in München an und überzeugte das Kollegium, ihr eine Chance zu geben.

Viele Kinder aus Zuwandererfamilien schaffen diesen Sprung nicht - dem Migrationsbericht der Bundesregierung zufolge gehen Schüler mit Migrationshintergrund deutlich seltener auf Gymnasien und sind überproportional häufig auf Hauptschulen vertreten. Gerade Flüchtlinge wie Fatima kämpfen mit Sprachbarrieren, Bildungslücken, oft komplizierten familiären Situationen, finanziellen Schwierigkeiten und beengten Wohnverhältnissen.

Fatima muss oft warten, bis ihr 14-jähriger Bruder Mohamad und ihre 17-jährige Schwester Zahraa eingeschlafen sind, bevor sie ihre Hausaufgaben erledigen kann - sie teilen sich zu dritt ein Zimmer in der Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge. Jeder hat eine Ecke für sich, Fatima besitzt einen Schreibtisch und viele Bücher. An den Wänden hängt ein altes Bravo-Poster, Postkarten, Fotos und ein von Fatima gezeichnetes Bild - ihr Name in arabischen Buchstaben auf einem pinken Hintergrund. Die Leinwand hat sie sich von den 100 Euro gekauft, die sie als TiL-Stipendiatin monatlich für Bildungsausgaben erhält. Ein Luxus für Fatima - sie hat im Theater "Der zerbrochene Krug" gesehen, kauft Bücher für die Schule ein, oder eben Leinwände und Farben.

Die Stipendiaten von "Talent im Land Bayern" sollen auch andere dabei unterstützen, ihren Weg zu finden, alle sind gesellschaftlich engagiert. Fatima gibt etwa Flüchtlingskindern seit Jahren Nachhilfe - denn sie weiß, wie sehr ihr selbst die Hausaufgabenbetreuung geholfen hat. "Ich habe gemerkt, wie wichtig es ist, dass man von Anfang an gefördert wird", sagt sie. Die 20-Jährige hat sich immer angestrengt und versucht, sich zu integrieren. Deswegen ist sie auch von der Migrationsdebatte in Deutschland betroffen: "Ich wollte immer gut sein, damit ich der Gesellschaft später etwas zurückgeben kann", sagt sie.

Fatima hat sich in München eingelebt, hier hat sie am längsten gelebt. "In Formularen schreibe ich bei der Staatsbürgerschaft irakisch hin - aber ich war doch noch nie dort", sagt die 20-Jährige. "Manchmal weiß ich nicht, wie ich mich fühlen soll." Sie hat weder einen irakischen oder iranischen, noch einen deutschen Pass - stattdessen muss sie immer wieder auf eine Verlängerung ihrer befristeten Aufenthaltsgenehmigung hoffen.

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Quelle:
SZ vom 18.02.2011/caj
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