Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Lichtblicke, Folge 15:Der Mann, der das olympische Feuer stibitzte

Franz Samuel aus Ebenhausen hat 1972 von einem Fackelläufer unbemerkt einen kleinen Funken Olympia abgezweigt. Seitdem hütet er es bei sich zu Hause und passt auf, dass es nicht ausgeht.

Von Iris Hilberth, Schäftlarn

Es gibt Flammen, auf die sollte man nicht nur aus Sicherheitsgründen gut aufpassen. Ihre symbolische Bedeutung verbietet es, sie aus Versehen ausgehen zu lassen oder einfach auszublasen. Das olympische Feuer, das stets kurz vor den Spielen allein durch die Sonnenstrahlen und mit Hilfe eines Hohlspiegels im antiken Olympia entzündet wird, gehört sicher dazu. Es muss über eine lange Strecke am Leben gehalten werden, wird auf dem Weg vom griechischen Peloponnes zum aktuellen Austragungsort von einem Fackelläufer zum nächsten gereicht, um anschließend im Olympiastadion zu brennen, bis der letzte Wettbewerb entschieden ist.

Derzeit müssen die Japaner ein Jahr lang auf die symbolträchtigen Flammen aufpassen, denn das Feuer hatte das Gastgeberland bereits erreicht, als die Olympischen Spiele von Tokio wegen Corona auf 2021 verschoben wurden. Das ist aber noch gar nichts im Vergleich zum olympischen Feuer von 1972. Das nämlich brennt seit mehr als 48 Jahren in Schäftlarn-Ebenhausen. Ohne jemals ausgegangen zu sein.

Die kleine Flamme im Flur von Franz und Inge Samuel taucht den Eingang ihres Hauses in ein angenehmes Licht. In einer mit Öl gefüllten Kristallvase leuchtet gut behütet die Erinnerung an die Olympischen Spiele in München. Ein Küchensieb aus Metall hält Nachtfalter davon ab, sich hineinzustürzen und nicht nur sich selbst, sondern auch diesem kostbaren Souvenir von 1972 den Garaus zu machen. Was das olympische Feuer hier immer noch auf dem Heizungssims der Samuels neben anderen Erinnerungsstücken an das große Sportereignis von München macht, ist die Geschichte eines kecken Moments und einer anhaltenden Fürsorge eines Experten.

Franz Samuel, der als ehemaliger Mesner einen Sinn für Kerzen und Flammen hat, fasste im August vor 48 Jahren den Entschluss, sich das olympische Feuer nach Hause zu holen. Als er erfuhr, dass die Fackelläufer auf ihrem Weg von Griechenland ins Münchner Olympiastadion direkt in seinem Heimatort vorbeikommen würden, und dass sie auf der Route über die B 11 ausgerechnet in Ebenhausen den Fackelwechsel geplant hatten, machten er und sein Sohn sich mit einer Weihnachtslaterne und einem Holzstöckchen auf den Weg. Der ganze Ort war auf den Beinen. "Die Blaskapelle spielte, der Gesangsverein trat auf, der Bürgermeister sprach", erinnert sich Franz Samuel. Als das olympische Feuer während dieser Zeremonie in zwei Pylonen auf die Fortsetzung seiner Reise wartet, achtete an diesem 24. August keiner auf Samuel, der unbemerkt seinen Holzspan an den weit gereisten Flammen anzündete und so einen kleinen Funken Olympia stibitzte.

Ein Coup, über den sich der inzwischen 88-Jährige auch heute noch diebisch freuen kann, auf den er stolz ist und der ihm so manchen Aufritt im Fernsehen bescherte. Das Feuer im Sommer '72 bereits auf dem Fernseher in Höhenschäftlarn bei der Übertragung der Eröffnungsfeier stehen zu haben, während Schlussläufer Günter Zahn noch dabei ist, es die 200 Stufen hinauf zur Feuerschale zu tragen, war schon eine bemerkenswerte Sache. Dass es 2020 immer noch brennt, überrascht viele noch mehr. Auch Volker Panzer, ehemaliger Leichtathlet vom TSV Unterhaching, der das olympische Feuer damals im Isartal übernahm und als Fackelläufer bis zur Münchner Stadtgrenze bei Geiselgasteig trug, ist beeindruckt.

Eigentlich wollten die Samuels mit dem Ende der Spiele in München auch ihr olympisches Feuer löschen. Aber irgendwie konnten sie sich nicht davon trennen. Und so fährt Franz Samuel regelmäßig nach München, um neues "Ewigöl" aus Hamburg zu kaufen, das sonst für Kirchenlichter verwendet wird. Auch die Dochte, die er verwendet, sind speziell für solche Zwecke gefertigt und kommen aus Nürnberg. Wann immer Olympische Spiele stattfinden, brennt das Licht auf dem Fernseher. Manchmal zünden die Samuels auch an Geburtstagen oder Namenstagen die Kerzen daran an. Wichtig ist, dass das Öl in der Vase nie leer wird. Samuel hat das Wohl der Flamme immer im Blick und lässt auch niemanden sonst ran. Selbst als er vor zwei Jahren zu einer Notoperation ins Krankenhaus musste, hat Samuel vorher schnell noch einmal nachgefüllt.

Länger als elf Tage waren die Samuels auch nur einmal verreist, und dann gleich bis nach Australien zur Hochzeit des Sohns. "Ich habe damals die Vase mehr als sonst aufgefüllt und zwei Dochte aneinandergebunden", erzählt Samuel. Ganz sicher, dass die Flamme fünf Wochen nach ihrem Urlaub noch brennen würde, war er aber nicht. Jetzt weiß er: "Sechs Wochen hält sie durch." Aber irgendwann wird sie ausgehen, "da machen wir uns nichts vor", sagt Samuel. "Wichtiger ist das Licht im Herzen", sagt seine Frau.

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Quelle:
SZ vom 17.12.2020/kafe
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