Literaturveranstaltung:Das Glück in kleinen Bläschen

Literaturveranstaltung: Schöne Sätze wie "Ich bestehe nur noch aus Kind", lässt Natalie Buchholz in "Unser Glück" die überforderte Mutter sagen.

Schöne Sätze wie "Ich bestehe nur noch aus Kind", lässt Natalie Buchholz in "Unser Glück" die überforderte Mutter sagen.

(Foto: Claus Schunk)

Von präziser Ästhetik über informative Sachbücher bis zu poetisch formulierten Gedanken eines Flüchtlingsmädchens: Die Unterhachinger Lesenacht präsentiert sich wieder als Konzentrat dessen, was Literatur alles sein kann.

Von Franziska Gerlach, Unterhaching

Es dauerte lange, bis ihr Vater sich entschieden hatte zu gehen. Eines Tages aber saß ihm im Zug ein Mann gegenüber, liest Lena Gorelik aus ihrem autobiografischem Roman "Wer wir sind" vor, streifte die schmutzigen Stiefel am Knie ihres Vaters ab und sagte: "Geh doch nach Hause, du Drecksjude, geh doch nach Israel!" Und es war ebenfalls ein Zug, der sie in ihr neues Leben nach Deutschland bringen sollte. Am 2. Mai 1992, abends um 23.55 Uhr, fuhr er los. Am Fenster stand die damals elfjährige Lena Gorelik, sah noch eine Weile auf die Lichter von St. Petersburg. Blickte zurück auf ihre Kindheit in Russland. Dann wurde es dunkel.

Nach zwei Jahren Pandemie wirkt auch die Unterhachinger Lesenacht, obwohl sie bereits zum 18. Mal stattfindet, wie ein Popstar, der mit Verspätung aus dem Dunkel ins Bühnenlicht tritt. 2020 musste die Lesenacht kurzfristig wegen Corona ausfallen, 2021 gab es eine abgespeckte Version mit drei Autoren und dem Kubiz als einzigem Veranstaltungsraum. Am Samstag aber durfte sich die Lesenacht an sechs Orten entfalten, ein regelrechtes Lese-Hopping, bei dem die Unterhachinger schnell in ihre Rolle als aufmerksame Zuhörer und Diskussionsteilnehmer zurückfanden. In der Gemeindebücherei setzten die SZ-Autoren Roman Deiniger und Uwe Ritzer mit ihrer Lesung aus "Die Spiele des Jahrhunderts. Olympia 1972, der Terror und das neue Deutschland" Erinnerungen frei an Leichtathletin Heide Rosendahl oder Dackel Waldi, aber auch an das Bild eines neuen, demokratischen Deutschlands, das man der Welt zeigen wollte, Erinnerungen an die Idee eines friedlichen Miteinanders, das im palästinensischen Terror ein brutales Ende fand. Für ihre Darstellung der Attentate wurden sie von einem Herrn im Publikum gelobt, es sei "beeindruckend", wie sie in ihrem Buch "die politischen und sportlichen Ereignisse eines ganzen Jahrhunderts" aufbereitet hätten. Von Wissenschaftsjournalist und Zukunftsforscher Ulrich Eberl wiederum, der aus "Unsere Überlebensformel. Neun globale Krisen und die Lösungen der Wissenschaft" las, wollte ein Gast in der Buchhandlung "Helming & Heuser" wissen, was "der kleine Mann" jenseits des Weltklimagipfels und seiner Fonds denn für die Umwelt tun könne? Es gebe nicht nur einen Weltklimagipfel, sondern auch einen Weltbiodiversitätsgipfel, an dem immerhin 190 Länder teilnehmen würden, antwortete der Biophysiker. Und eines der Ziele sei, bis 2030 rund 30 Prozent der Fläche an Land und Meer unter Schutz zu stellen. Wieder was gelernt.

Literaturveranstaltung: Wissenschaftsjournalist Ulrich Eberl.

Wissenschaftsjournalist Ulrich Eberl.

(Foto: Claus Schunk)

Auf Eberl folgte in Natalie Buchholz, die in Unterhaching ja "keine Unbekannte" sei, wie Christine Helming, die Initiatorin der Lesenacht, anmerkte. Buchholz' Roman "Unser Glück" spiele in München, und das sei ja wichtig. Schließlich will man sich auf Autoren und Themen aus der Region konzentrieren. Buchholz, 1977 in Frankreich geboren, erzählt darin die Geschichte einer jungen Familie, die sich für eine Altbauwohnung in Schwabing, die sie sich eigentlich nicht leisten kann, auf einen seltsamen Deal einlässt: Der Ex-Mann der Eigentümerin darf weiter in einem Zimmer hausen. Das klingt nach einer Literatur gewordenen Abrechnung mit dem überhitzten Münchner Mietmarkt, erweist sich aber schon nach wenigen Zeilen als einfühlsame Studie eines modernen Paares, das sich in seinem neuen Leben nicht zurechtfindet. Buchholz lässt die überforderte Mutter Sätze sagen, wie sie eine Umfrage auf einem Münchner Spielplatz eindrücklicher nicht hervorbringen könnte. "Ich bestehe nur noch aus Kind". Oder: "Mir fehlt Struktur und Sinn."

Literaturveranstaltung: Catalin Dorian Florescu liest in Unterhaching aus seinem historischen Roman "Der Feuerturm".

Catalin Dorian Florescu liest in Unterhaching aus seinem historischen Roman "Der Feuerturm".

(Foto: Claus Schunk)

Informativ und faktenreich, berührend und mehrere Generationen umspannend ist "Der Feuerturm", der historische Roman des Schriftstellers Catalin Dorian Florescu, der schon lange in der Schweiz lebt, seine Heimat Rumänien aber nie wirklich verlassen habe, wie er sagt: Es liegt im Wesen von Veranstaltungen wie der Lesenacht, das sie sich dem Besucher als Konzentrat dessen präsentieren, was Literatur alles sein kann. Manche Autoren gefallen mit präziser Ästhetik, andere mit Recherchefleiß, wieder andere konservieren mit schlichter Schönheit die Gedanken eines Mädchens, das plötzlich eine Fremde ist. "Sie haben im Westen das Glück in kleine weiße Bläschen gepackt", beschreibt Gorelik, wie sie als Flüchtlingskind in Süddeutschland das erste Schaumbad ihres Lebens nahm. Der wohl schönste Satz des Abends aber kam als Zitat nach Unterhaching. Für ihr Buch hatten Ritzer und Deininger auch Hans-Jochen Vogel interviewt, im Jahr 1972 Münchens Bürgermeister. Dieser habe mitunter bildhaft formuliert, da konnte man glatt neidisch werden, erzählte Deininger in der Bücherei. Und über die Entscheidung, Olympia nach den Anschlägen fortzuführen, hatte Vogel seinerzeit Folgendes gesagt: "Die Spiele liefen weiter wie die Räder eines Festwagens, der umgefallen war, und langsam zum Stillstand kam."

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