Kreis und quer:Da hat sich was angestaut

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Im Stau bleibt viel Zeit zum Nachdenken. Über den Sinn des Lebens, den ÖPNV - und darüber, wie es so weit kommen konnte.

Kolumne von Martin Mühlfenzl

Die Wiederentdeckung der Langsamkeit ist ein Phänomen dieser so hektischen, manchmal auch hysterischen Zeit, in der sich viele Menschen von Job, Familie oder Freizeitstress getrieben fühlen. Und Wege der Entschleunigung gibt es viele: Sie reichen vom Verzicht auf Luxus über bewussteres Reisen bis hin zu gesünderer Ernährung. Es kommt aber auch vor, dass man unabsichtlich den Weg der Entschleunigung einschlägt. Wie die zigtausend Pendler, die vor einigen Jahren zwischen den chinesischen Städten Jining und Huai'an gleich für mehrere Wochen in einen Stau gerieten. Die mehr als 30 000 Autos in der Mega-Blechlawine kamen pro Tag nur ein paar Meter voran. Wer derart ausgebremst wird, hat viel Zeit, über sein eigenes Leben und den Sinn des Seins nachzudenken - oder sich höllisch aufzuregen.

Pendler in Stadt und Landkreis München müssen sich noch nicht vorsorglich mit Notfall-Paketen für mehrere Tage dauernde Staus ausrüsten. Dennoch hat die Stadt in dieser Woche wieder Mal einen unrühmlichen Titel eingesammelt: Vor Berlin und Hamburg ist München Stau-Hauptstadt Deutschlands. Pendler verbringen hier im Schnitt 74 Stunden im Jahr auf verstopften Straßen. Aber die Bewohnerinnen und Bewohner der Landeshauptstadt können diesen Titel nicht exklusiv für sich in Anspruch nehmen - sie müssen ihn sich mit den Einwohnern des Landkreises München teilen. Zum einen sind die Grenzen zwischen Stadt und Umland fließend, es ist also kein Kunststück, am Morgen mehrere Stunden auf dem Föhringer Ring zu verbringen und im Schritttempo Stadt und Landkreis zu durchqueren. Auch ein Ausflug von Berg am Laim nach Pullach kann sich hinziehen, wenn schon auf der Candidstraße am Giesinger Stadion nichts mehr geht, in der Folge die Kolonne am Tierpark langsamer vorankommt als die Elefanten im Zoo und spätestens im Isartal Stillstand herrscht. Außerdem pendeln längst mehr Menschen aus der Stadt in den Landkreis zur Arbeit als umgekehrt. Von wegen Stau-Hauptstadt! Die eigentliche Ehre gebührt dem Landkreis.

Wer bei Schleißheim auf der A 99 im Stau steht, kann sich mit Blick auf die Dächer des Olympiaparks und den Olympiaturm fragen, warum die Stadt und der Freistaat in der Lage waren, solche Monumentalbauten in die Landschaft zu setzen und ein damals einzigartiges, hochmodernes S-Bahn-Netz aufzubauen - aber warum dies in dem halben Jahrhundert seither kaum weiter ausgebaut wurde und heute ein tagtägliches Ärgernis für Zehntausende Pendler darstellt. Ein Teil der Antwort lautet: CSU-Ministerpräsidenten und ihre Verkehrsminister schleusten Haushaltsmilliarden lieber in schwarze Stimmkreise als ins rot-grüne München, und SPD-Oberbürgermeister interessierten sich lange Zeit wenig bis gar nicht für das Umland. So hat sich das Ganze angestaut.

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:München bleibt Deutschlands Stauhauptstadt

74 Stunden pro Jahr verbringen dort Autofahrer auf verstopften Straßen - der deutsche Durchschnitt liegt deutlich darunter. Doch es gibt auch eine gute Nachricht.

Von Andreas Schubert

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