Süddeutsche Zeitung

Serien-Auftakt: Sound des Sommers:Der schmale Grat zwischen Klang und Krach

Ob ein Mensch Geräusche angenehm oder belastend empfindet, hängt von seiner Lebenslage ab. Die SZ hat sich auf die Suche nach dem "Sound des Sommers" gemacht.

Von Iris Hilberth

Es raschelt, manchmal prasselt es und vielleicht klopft es auch. Ein Pfeifen, ein Rauschen, ein Scheppern, mitunter auch ein Brummen. Geräusche um uns herum mischen sich zu einem akustischen Brei. Wirkliche Stille, oder das, was wir uns darunter vorstellen, ist selten geworden. In der warmen Jahreszeit nehmen wir viel mehr von all den Alltagsgeräuschen wahr, allein weil die Fenster offen sind oder wir auf dem Balkon oder im Garten sitzen. Es ist der "Sound des Sommers", und es liegt oft an uns selbst, dem Empfinden und der Situation, in der wir uns befinden, ob wir von Klang oder Lärm sprechen, ob es angenehm oder unerträglich ist, was wir zu hören bekommen.

So nervt uns die Giesinger Autobahn nur dann, wenn wir daneben auf der Terrasse essen, nicht aber, wenn wir schnell in die Stadt wollen. Empfinden wir das Vogelgezwitscher morgens um vier vor dem Schlafzimmerfenster als genauso schön wie bei einem Spaziergang am Speichersee, erinnert uns der Zirpen der Grille auf der Oberhachinger Wiese nicht immer ein bisschen an Urlaub und sind die Fangesänge der Fußballfans aus der Südkurve des Unterhachinger Stadions nicht einfach nur nervig, wenn man gar kein Fußball mag?

Kurt Tucholsky hat schon darauf hingewiesen: "Der eigene Hund macht keinen Lärm - er bellt nur." Bernhard Leipold, Professor für Psychologie an der Universität der Bundeswehr in Neubiberg, sagt: "Entscheidend für ein Belastungserleben ist, ob unser Handeln oder unsere Ziele gestört werden, ob wir uns geschädigt fühlen und ob wir das Geräusch kontrollieren können." Wenn man beispielsweise gestresst sei und sich konzentrieren müsse oder wenn man sich einen ruhigen Urlaub wünsche, könnten dieselben Personen anders auf den lauten Kinderspielplatz reagieren als in anderen Alltagssituationen.

Bei der Frage, wie laut oder störend Menschen Geräusche empfinden, gehen laut Leipold die Meinungen auseinander. So könne man einerseits Unterschiede zwischen Personen und ihren Präferenzen beachten und andererseits Situationen und Orte, die mit bestimmten Geräuschen assoziiert würden. "In einer Diskothek wäre man durch eine zu geringe Lautstärke irritiert, in Situationen differenzierter Wahrnehmung kann der tickende Sekundenzeiger stören."

Dauerhafter Lärm von 85 Dezibel kann das Gehör schädigen

Ein Geräusch wird dann zu Lärm, wenn es als störend und unerwünscht empfunden wird. Dass Lärm krank macht, ist hinlänglich bekannt. Aber wo liegt die Grenze? Rein physikalisch gesehen gibt es den Schalldruckpegel, der in Dezibel gemessen wird. Je nach Frequenzbereich liegt die Schmerzschwelle zwischen 130 und 140 Dezibel, doch unangenehm wird es schon bei 120. Im Vergleich: Ein Düsenflugzeug oder Rockkonzert kann schon einmal 120 Dezibel erreichen, ein Presslufthammer oder ein Gewitterdonner schaffen etwa 100 Dezibel, fünf Meter entfernt von einer Verkehrsstraße muss man mit 80 Dezibel rechnen, ein lautes Gespräch kann schon mal 60 bis 80 Dezibel aufweisen, für das Blätterrascheln in der Ferne werden meist nur noch zehn Dezibel angegeben.

Dauerhafter Lärm von 85 Dezibel kann das Gehör schädigen. Wissenschaftliche Studien haben laut Umweltbundesamt gezeigt, dass bei Straßenlärm, der im Haus einen Schallpegel von 65 Dezibel erreicht, das Risiko für Herzkreislaufstörungen um 20 Prozent höher ist als bei Werten von 50 bis 55 Dezibel.

Gesellschaft und Politik haben schon vor mehr als hundert Jahren versucht, den Lärm zu minimieren. Im Kaiserreich gab es bereits ein Verbot für lärmende Nachtarbeit, viele Kommunen haben schon lange eine Lärmschutzverordnung und bereits 1908 kam Ohropax auf den Markt. Auch Beate Altreuther, Physikerin beim Ingenieurbüro Müller BBM in Planegg, sagt: "Die Lästigkeit eines Geräuschs hängt von vielen Parametern ab." Das Unternehmen berät verschiedene Kommunen im Landkreis München, wie zuletzt zum Beispiel Pullach, Unterhaching und Unterschleißheim sowie das Landratsamt selbst, und erstellt auch Lärmschutzgutachten.

120 Dezibel

Diesen Wert kann ein Düsenflugzeug oder ein Rockkonzert erreichen, ein Presslufthammer oder ein Gewitterdonner schaffen etwa 100 Dezibel, fünf Meter entfernt von einer Verkehrsstraße muss man mit 80 Dezibel rechnen, ein lautes Gespräch kann schon einmal 60 bis 80 Dezibel aufweisen, für das Blätterrascheln in der Ferne werden meist nur noch zehn Dezibel angegeben. Dauerhafter Lärm von 85 Dezibel kann das Gehör schädigen.

"Die Erwartungen sind da immer sehr hoch", sagt Altreuther. Doch nicht immer, wenn die Menschen am Ort davon überzeugt sind, dass es einfach zu laut ist, können die Sachverständigen das auch bestätigen. Die gesetzlichen Grenzwerte liegen häufig höher als die persönlichen. Auch müsse Lärmschutz finanziell vernünftig sein. "Die Menschen müssen noch arbeiten können, es geht immer auch darum, den Betrieb aufrecht zu erhalten."

Konflikte gebe es vor allem in Gebieten, in denen Wohnungsbau und Gewerbe aufeinander träfen. In den meisten Fällen allerdings sei der Lärmschutz eher verschärft als gelockert worden und die Grenzwerte zum Teil korrigiert. Eine Ausnahme sei die Baunutzungsverordnung. Hier habe man teilweise den Lärmschutz in urbanen Gebieten gelockert, um für innerstädtische Bereiche Wohnungsbau in Mischgebieten zu fördern.

Stille ist Schall, die der Mensch nicht mehr hören kann

Aber kann ein Mensch totale Stille eigentlich ertragen? Psychologe Leipold sagt: "Auch hier unterscheiden sich Menschen teilweise sehr darin, was sie gewohnt sind, was sie in bestimmten Situationen erwarten und was Priorität hat." Stille könne durchaus als unangenehm empfunden werden, wenn jemand sich einsam oder allein fühle und dann das Radio einschalte. Andererseits werde sie aber empfohlen, um die Konzentration zu schulen oder einfach nur "abzuschalten".

Für den Münchner Psychoakustiker Bernhard Seeber von der Technischen Universität München ist Stille Schall, den der Mensch nicht mehr hören kann. Das menschliche Ohr kann Schallwellen im Frequenzbereich zwischen 100 und 20 000 Hertz wahrnehmen. Ob man etwas als zu laut empfindet, hänge auch mit der Art des Schalls zusammen, sagt Seeber. Impulsive Geräusche würden häufig als lauter empfunden, Tellerklappern etwa oder ein Knall.

Im vergangenen Jahr wurde an der TU ein neuer "Reflexionsarmer Raum" eingerichtet, in dem Vibrationen von außen auf ein Minimum reduziert wurden. Dort können Seeber und sein Team Hörerfahrungen aus dem Alltag im Labor simulieren. Etwa Töne aus dem Englischen Garten oder aus einer U-Bahn-Station. Die Forscher wollen herausfinden, wie die Verarbeitung von Schall im Hörsystem des Menschen funktioniert und so Hörgeräte und Cochlea-Implantate weiterentwickeln.

An der Hochschule für angewandte Naturwissenschaften in München arbeiten Professor Datong Wu und sein Team daran, Schallwellen sichtbar zu machen, denn er sagt: "Mit Schallwellen kann man mehr in die Tiefe sehen und damit kleine Strukturen erkennen." So arbeite sein Institut etwa mit dem Halbleiter-Hersteller Infineon, der seine Zentrale in Neubiberg hat, zusammen. Mit Schallwellen sei es möglich, kleine Risse in den Produkten zu erkennen. Gerade erst ist einer seiner Mitarbeiter von der "Gesellschaft für zerstörungsfreie Werkstoffprüfung" ausgezeichnet worden.

"Das Ohr ist das komplizierteste Organ des Menschen, komplizierter als das Auge", sagt Wu. Die Wissenschaft habe noch gar nicht alles verstanden, was die Natur da mache, "aber das ist hoch spannend auch für die technische Anwendung", sagt er. Während der Akustiker drei Meter große Membranen brauche, um mit bestimmten Schallwellen etwas anzufangen, schaffe das Ohr dies auf winzigkleinem Raum. "Wir wissen, dass die Härchen im Ohr akustisch relevant sind, aber wir habe es teilweise noch nicht verstanden", sagt Wu. An seinem Institut steht eine Akustikkamera, ein Instrument mit 50 kleinen Mikrofonen, "wie 50 kleine Ohren", sagt der Professor.

Das Bild, das auf dem angeschlossenen Monitor erscheint, zeigt präzise an, wo genau die Lärmquelle sich befindet. Bei Autos etwa im unteren Bereich, an den Rädern. "Der Reifenabrieb ist am lautesten", erläutert Wu. Man kann die akustische Kamera aber auch auf einen Wald richten, etwa mit dem Ziel, einen Grünspecht zu finden. Das Instrument analysiert die Schallwellen und blendet dabei alle anderen Vögel aus. Der genaue Standort der "Lärmquelle" Grünspecht wird auf dem Bildschirm sichtbar, das Ergebnis der Messung farbig dargestellt.

Professor Seeber arbeitet mit Patienten, die viele Jahre nichts gehört haben und nun mit einem Implantat das Hören erst wieder lernen müssen. Sie erzählten ihm von täglich neuen, unbekannten Geräuschen, die sie noch nie gehört hätten. "Das Gehirn muss erst wieder lernen, die Signale zu verarbeiten, die Assoziation herstellen. Es muss das Puzzle erst wieder zusammensetzen."

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Quelle:
SZ vom 17.08.2019
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