Süddeutsche Zeitung

Integrationshilfe:Niemand soll durchs Raster fallen

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Immer mehr Kinder und Jugendliche brauchen Unterstützung im Klassenzimmer. Der Landkreis rückt daher davon ab, dass jeder einen persönlichen Betreuer bekommt.

Von Martin Mühlfenzl, Landkreis

Die Corona-Pandemie hat auch und vor allem bei Kindern und Jugendlichen Spuren hinterlassen. Immer wiederkehrende Schulschließungen, Homeschooling und fehlende Kontakte haben bei vielen zu seelischen Beeinträchtigungen und auch Schwierigkeiten in der persönlichen Entwicklung geführt. Daher will der Landkreis die Arbeit der Integrationshelfer in der inklusiven Schule, respektive der Schulbegleitung umstrukturieren und ausbauen - und es soll an dieser Arbeit auch nicht gespart werden. Einen entsprechenden Beschluss hat der Jugendhilfeausschuss auf Anregung der SPD am Mittwoch einstimmig gebilligt.

Es sind aber nicht nur die Umstände der Corona-Pandemie, die zur Erkenntnis geführt haben, dass immer mehr Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf zusätzliche Unterstützung benötigen, die über den Lehrplan hinausgeht. Schon vor Ausbruch der Pandemie stiegen die Fallzahlen in der Schulbegleitung stetig an und mit ihnen auch die Kosten. Waren es im Jahr 2018 noch 114 Schüler, stieg diese Zahl im Jahr 2019 auf 157; und auch der finanzielle Bedarf vergrößerte sich im selben Zeitraum von 2,4 auf nahezu 3,8 Millionen Euro. Dann kam Corona und mit den Schulschließungen ein Einbruch bei den Fallzahlen, doch der Bedarf steigt mittlerweile wieder rasant an.

Zu viele Erwachsene im Klassenzimmer wollen die Lehrer nicht

Die Schulbegleitung ist in der Zuständigkeit der Jugendhilfe des Landratsamtes angesiedelt, organisiert wird sie in den Schulen von bisher sieben Trägern, der größte ist die Arbeiterwohlfahrt München-Land. Bisher wird allen Kindern oder Jugendlichen, die sogenannte Eingliederungshilfe benötigen, je ein Schulbegleiter an die Seite gestellt. Doch genau diese Struktur soll geändert werden, um neue Kapazitäten zu schaffen. Der Schlüssel heißt dabei: Pooling. So soll ein Schulbegleiter nicht mehr nur einen, sondern mehrere Schüler betreuen. "Der Ansatz ist gut", sagt die Oberschleißheimer Grünen-Kreisrätin Ingrid Lindbüchl, die selbst als Lehrerin arbeitet. "Wir wissen, dass der Betreuungsbedarf steigt, dass immer mehr Kinder - auch durch Corona - Zuwendung und Unterstützung benötigen."

Würde jedem einzelnen Schüler ein Erwachsener dauerhaft zur Seite gestellt, säßen aber zu viele Erwachsene im Klassenzimmer, sagt Lindbüchl. "Darauf sind unsere Klassenzimmer nicht ausgelegt." Und es sei wichtig, betont sie, jedes Kind einzeln zu betrachten, zu eruieren, welche speziellen Bedürfnisse es konkret hat. "Das Pooling darf aber nicht zur Folge haben, dass wir keine Einzelbetreuung mehr haben", sagt Lindbüchl. "Wenn ich ein Kind mit ADHS habe, dann muss ich als Schulbegleiter ständig da sein, da reicht eine Gruppenlösung nicht aus."

Auch SPD-Fraktionschef Florian Schardt, der im Ausschuss erfolgreich darauf gedrängt hat, eine Deckelung bei den Kosten der Schulbegleitung nicht einzuziehen, sagt, es dürfe kein Kind durch das Raster fallen. "Es ist ganz wichtig, dass Kinder, die Einzelbetreuung brauchen, diese auch bekommen", sagt der Ottobrunner. "Und es muss ganz individuell darauf geachtet werden, welche Betreuung genau die richtige ist. Aber das Pooling kann ein sinnvoller Ansatz sein."

Gerade jetzt nach eineinhalb Jahren Corona, so Schardt, sei es aber "widersinnig", auf die Kosten zu schauen. Dies hatte die Verwaltung im Landratsamt zunächst getan, indem sie den Kreisräten vorschlug, die Pooling-Modelle voranzutreiben, "wenn dadurch gegenüber einer Bedarfsdeckung durch Individualschulbegleitung keine Mehrkosten entstehen".

Wie sehr die Schulbegleitung an allen Schulformen im Landkreis benötigt und auch akzeptiert wird, hinterlegt Reinhard Markowetz, Pädagogik-Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität, mit Zahlen. Markowetz hatte im Auftrag des Kreistags in einer Umfrage Lehrer im Landkreis befragt, die bereits mit einem Schulbegleiter arbeiten. Etwa 97 Prozent der Befragten gaben an, die Schulbegleiter seien für Schulen mit dem Profil Inklusion unverzichtbar; in etwa so viele sagten zudem, dass Schulbegleiter "dringend qualifiziert" werden sollten.

Darauf dringt auch Grünen-Kreisrätin Lindbüchl, die sich "mehr Einheitlichkeit" bei der Qualifikation der Schulbegleiter wünscht. Florian Schardt forderte indes, dass die in Auftrag gegebene Befragung von Schülern, Lehrern, Eltern und Schulbegleitern, die eigentlich Bestandteil von Markowetz Bericht hätte sein sollen, zwingend noch nachgeholt wird; aufgrund der Pandemie habe diese bisher noch nicht stattfinden können.

Wie die Schulbegleitung konkret in der Zukunft aussehen könnte, welche Schulen welche Betreuungsangebote machen sollten, soll in Beratungsrunden ausgelotet werden, an denen alle Beteiligten an einem Tisch zusammenkommen sollen. Ingrid Lindbüchl regte an, zwingend auch den Behindertenbeirat in diese Runden zu integrieren. "Denn wir reden auch von Kindern und Jugendlichen mit körperlichen Behinderungen, auch deren Belange müssen berücksichtigt werden."

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Quelle:
SZ vom 08.10.2021
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