Süddeutsche Zeitung

Freilichtmuseum Kirchheim:Das Mittelalter zum Anfassen

Seit 15 Jahren rekonstruieren Archäologen und Laien auf dem Gelände des Kirchheimer Bajuwarenhofs ein landwirtschaftliches Gut aus dem 6. bis 8. Jahrhundert. Die Begeisterung über das Freilichtmuseum in der Bevölkerung wächst, jetzt soll es sogar ausgebaut werden.

Von Anna-Maria Salmen, Kirchheim

Mit zusammengekniffenen Augen lässt sich ein Pfad in der dichten Wildwiese erahnen. In einiger Entfernung erheben sich hölzerne Gebäude aus dem mit Löwenzahn und Gänseblümchen gesprenkelten Gras, dahinter ein lang gezogenes Haus mit steilem Schilfdach. Auf den ersten Blick scheint es, als wäre auf dem kleinen Gehöft die Zeit seit rund 1500 Jahren stehen geblieben. Nur das Rauschen der nahen Autobahn verrät, dass der Besucher sich doch nicht in das frühe Mittelalter verirrt hat.

Seit mehr als 15 Jahren rekonstruieren Archäologen und geschichtsbegeisterte Laien auf dem Gelände des Bajuwarenhofs in Kirchheim ein landwirtschaftliches Gut, wie es im 6. bis 8. Jahrhundert ausgesehen haben könnte. Eigentlich, so erzählt Museumsleiterin Jennifer Bagley, sollte das Gehöft nach einiger Zeit wieder abgebaut werden. Doch der Bajuwarenhof fand immer mehr Freunde: Es gründete sich ein Förderverein, der das Freilichtmuseum bis heute betreibt, die Anlage pflegt und zahlreiche Veranstaltungen und Führungen organisiert.

Auf einem kleinen Feld wachsen Bohnen, Zwiebeln und Pastinaken

Das temporäre Projekt wurde zur dauerhaften Einrichtung und wuchs mit der Zeit immer weiter. In den kommenden Jahren soll der Bajuwarenhof in mehreren Schritten erneut renoviert und erweitert werden, der Kirchheimer Gemeinderat stimmte kürzlich den Plänen zu.

Noch vor der Landesgartenschau 2024 soll ein neues Kassenhaus mit Toiletten errichtet werden, eines der bestehenden Häuser wird bis dahin aufgrund von Feuchtigkeitsschäden abgerissen und neu aufgebaut. Später sollen weitere Gebäude rekonstruiert werden, beispielsweise eine Schmiede und eine Küche. Aktuell wird das Gehöft bereits teilweise bewirtschaftet: In einem Garten werden Pflanzen zum Färben angebaut, auf einem kleinen Feld wachsen unter anderem Bohnen, Zwiebeln und Pastinaken. Um das frühmittelalterliche Gut komplett zu machen, plant Museumsleiterin Bagley, in einigen Jahren zusätzlich Nutztiere wie Hühner und Schafe zu halten.

Auch eine kleine Holzkirche soll bald den Bajuwarenhof zieren. Das Fundament dafür steht bereits: Mit Moos überwucherte Steinblöcke bilden den Grundriss, innen wuchert Gestrüpp. "Die Idee ist, die Kirche während der Landesgartenschau fertig zu bauen", sagt Bagley - wenn man die Errichtung eines Gebäudes mit historischen Techniken und Materialien beobachten könne, würde der Besuch noch lebendiger. Geschichte greifbar zu machen, das ist es, was das Projekt Bajuwarenhof ausmacht. Gerade deshalb ist das Museum nicht nur bei interessierten Erwachsenen beliebt - auch Kinder besuchen den Hof gern, schließlich lernen sie hier die längst vergangene Epoche nicht nur durch Schulbücher kennen.

Aber woher weiß man, wie im Frühmittelalter Gebäude ausgesehen haben könnten oder welche Techniken die Menschen verwendeten? Schriftliche Quellen sind laut Bagley selten, die wenigen erhaltenen Dokumente beschäftigten sich meist nicht mit dem Alltag der einfachen Leute. Die Archäologie kann hingegen bereits viel erklären, wie die Museumsleiterin erläutert.

Bei Ausgrabungen könne man etwa erkennen, wo einst Gebäude standen: Dunkel verfärbte Löcher in der Erde zeigen die Stellen, an denen die stützenden Holzpfosten in den Boden gerammt wurden. "So können wir sagen, wie lang und breit ein Haus war", sagt Bagley. Funde von Werkzeugen könnten zudem Aufschluss über Handwerkstechniken geben: "Die Gegenstände unterscheiden sich teilweise gar nicht so sehr von moderneren. Mit gewisser Wahrscheinlichkeit war vielleicht auch die Anwendung damals ähnlich."

Manchmal jedoch hilft nur Ausprobieren, sagt Bagley, experimentelle Archäologie nennt man das. "Dadurch bekommt man erst ein Gefühl dafür." Seit Beginn des Projekts haben die Beteiligten viel gelernt, wie die Archäologin erzählt. "Zum Beispiel haben wir jetzt viel mehr Erfahrung im Dachdecken. So etwas lernt man nicht in der Uni." Der Bajuwarenhof liefere auch wichtige Erkenntnisse für die Forschung: An den Gebäuden könne man beobachten, wie die Witterung die Materialien beeinflusse oder wie das Raumklima beschaffen sei.

Durch das Ausprobieren könne man zudem mit verschiedenen Möglichkeiten spielen: "Die Rekonstruktionen sind sehr anschaulich und erwecken oft den Eindruck, dass es genau so gewesen ist. Aber es sind so viele Kleinigkeiten unsicher." Es sei etwa gut möglich, dass die Menschen im Frühmittelalter ihre Dächer mit Schilf gedeckt hätten, wie es im Bajuwarenhof gezeigt wird. Genauso seien jedoch auch Schindeln aus Stroh denkbar - ein zu hundert Prozent akkurates Bild der Vergangenheit könne man nie erhalten.

Am Langhaus demonstriert Bagley die Entscheidung, auf dem Bajuwarenhof verschiedene Gestaltungsarten zu zeigen. Um das schilfgedeckte, steile Dach schwirren unzählige Wildbienen, die ihre Nester in den engen Halmen gebaut haben und gerade erst geschlüpft sind. Ein Teil der Wände besteht aus Holzbalken, die hochkant angebracht sind. Ein anderes Stück ist hingegen aus mit Lehm verkleidetem Flechtwerk gemacht - beide Alternativen sind denkbar, sagt Bagley.

"Aber es ist schwer, das Haus im Winter zu heizen."

Tritt man aus der Mittagssonne in das Gebäude, wird es schlagartig angenehm kühl. Nur wenig Licht gelangt durch die Türen und eine Öffnung am Dach in den hohen Raum. Eine offene Feuerstelle verströmt den Geruch von Holzkohle, als wären die Flammen eben erst gelöscht worden. Tatsächlich ist der Ofen immer wieder in Benutzung, so Bagley. "Aber es ist schwer, das Haus im Winter zu heizen."

Gemütlicher wirkt da eine kleine, vom Hauptraum abgetrennte Stube. Unter der niedrigen Holzdecke steht ein Bett, ein Teil der weiß verputzten Wände ist mit einem verschlungenen Muster bemalt. Hier funktioniert auch das Heizen besser: In die Wand ist ein geschlossener Ofen eingebaut. "Hätte man in diesem kleinen Raum ein offenes Feuer, wäre das ganze Zimmer verraucht. Der geschlossene Ofen leitet den Rauch wieder zurück in den großen Raum und durch das Dach hinaus", erläutert Bagley. Bis auf circa 20 Grad könne man die Stube heizen, selbst wenn draußen Minustemperaturen herrschten.

"Für uns als Menschen der heutigen Zeit wirkt das alles wie eine andere Kultur", sagt Bagley. Und doch kann man sich gut vorstellen, wie die Vorfahren vor rund 1500 Jahren gelebt haben könnten, wenn man durch das Langhaus schlendert, die Finger über die Wände streichen lässt, den Geruch der Holzkohle einatmet. Beinahe erscheint es anschließend surreal, in das geparkte Auto einzusteigen und an der rauschenden Autobahn vorbeizufahren.

Abhängig von den jeweiligen Bestimmungen ist der Bajuwarenhof jeden Sonntag von 11 bis 17 Uhr geöffnet, der Eintritt ist frei. Informationen zu den aktuellen Hygiene- und Verhaltensregeln finden sich unter https://www.bajuwarenhof.de/oeffnungszeiten-preise.

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Quelle:
SZ vom 05.06.2021
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