Süddeutsche Zeitung

Ortsgestaltung:Steht das unter Schutz oder kann das weg?

Im Landkreis München sind in den vergangenen Jahren viele ortsprägende Gebäude abgerissen worden, weil sie nicht auf der Denkmalliste standen. Die Heimatpfleger bemühen sich zunehmend darum, solche Bauten zu erhalten - auch aus ökologischen Gründen.

Von Iris Hilberth, Landkreis München

Das Wildtier des Jahres ist heuer der Gartenschläfer, der kleine Verwandte des Siebenschläfers aus der Familie der Bilche. Es gibt auch einen Lurch des Jahres, nämlich den kleinen Wasserfrosch. Und der Einzeller des Jahres 2023 ist das Grüne Gallertkugeltierchen. Sie alle gehören zwar zu den bedrohten Arten, aber es gibt sie noch. Das ist bei dem, was der Bayerische Landesverein für Heimatpflege nun küren will, nicht der Fall. Gesucht wird bis zum 9. Januar der "Abriss des Jahres". Zur Wahl stehen ganz unterschiedliche Bauten, die abgebrochen worden sind: vom Uppenborn-Kraftwerk in Wang im Landkreis Freising über das Kaufhaus Hohenleitner in Garmisch bis hin zur alten Beton-Freiluftanlage des Kletterzentrums in München-Thalkirchen aus den Achtzigerjahren, der bautechnisch hohe Qualität attestiert worden war, die aber dennoch einer weiteren Boulderhalle weichen musste. Alle haben sie gemeinsam: Sie waren keine eingetragenen Baudenkmäler, so wie viele ortsprägende Bauten im Landkreis München, die in den vergangenen Jahren verschwunden sind.

Die etwas skurrile Auszeichnung, mit der bemerkenswerte Gebäude und andere Bauten quasi posthum gewürdigt werden, soll Mahnung sein, identitätsstiftende Architektur zu erhalten. "Wir beobachten mit großer Sorge, dass Denkmäler und auch ältere Gebäude, die nicht auf der Denkmalliste stehen, viel zu stiefmütterlich behandelt werden", schreibt Rudolf Neumaier, Geschäftsführer des Landesvereins. Dabei sei die Baukultur für Bayern genauso bedeutend wie die Bräuche, Mundarten und Trachten. "Das wird uns durch zahlreiche Hilferufe aus allen Teilen Bayerns gespiegelt, wenn sich Menschen an uns oder an die bei uns angesiedelte Initiative Denkmalnetz Bayern wenden, um den Umgang mit einzelnen Denkmälern zu beklagen und um sie noch zu retten", so Neumaier.

Vor zehn Jahren fiel der Turm von Taufkirchen. Die alte Brennerei mit ihrem großen Schornstein stand 133 Jahre lang an der Tölzer Straße, dann wurde sie abgerissen. Das Branntweinmonopol war weg, das Brennen von Agraralkohol zur industriellen Weiterverarbeitung rentierte sich für die Taufkirchner Genossenschaft nicht mehr, der Erhalt des Gebäudes von 1880 ebenfalls nicht. Dabei stand es damals sogar seit kurzer Zeit auf der Liste schützenswerter Bauten des Bayerischen Landesamts für Denkmalpflege. "Eingeschossiger Satteldachbau mit mittigem Quergiebel über hohem Sockelgeschoss in neubarocken Formen" war dort notiert, die Brennerei galt als Teil eines "geschlossenen Dorfensembles" mit Kirchen, Schulhaus und Gasthof. Die Untere Denkmalschutzbehörde stellte 2013 aber fest, dass eine Sanierung dem Eigentümer nicht zumutbar sei und zudem den Denkmalcharakter infrage stellen würde. Und so kam sie weg, die alte Brennerei.

Heute ist dort ein neues Wohngebiet mit Reihenhäusern, Wohnungen und Tiefgarage. Vermarktet wurde es unter dem schicken Namen "Destilleria", allein ein Bild auf dem Bushaltestellenhäuschen an der Tölzer Straße und das neue Café Brandwerk erinnern noch an die Herstellung von Branntwein an dieser Stelle.

Roland Rainer, ein bedeutender österreichischer Architekt, hat schon in den Achtzigerjahren in einem Vortrag darauf hingewiesen, dass "etwas nicht allein deshalb besser ist, weil es neu ist, und dass es nicht nur deshalb schlecht ist, weil es alt ist, sondern ganz im Gegenteil, dass das alte überlieferte Erbe von Stadtbild und Landschaft nicht nur für den Fremdenverkehr, sondern auch für uns selbst eine Lebensgrundlage, die seelische Lebensgrundlage, nämlich die Heimat ist, die nie wieder hergestellt werden kann, wenn sie einmal zerstört und verloren ist". Bernhard Landbrecht, Architekt und bayerischer Heimatpfleger, zitiert den ehemaligen österreichischen Kollegen in Der Bauberater, der Zeitschrift des Landesverbands für Heimatpfleger und betont: "Einmaligkeit bedeutet Identität und die Erhaltung, aber auch angemessene Weiterentwicklung solcher Orte liegen im Interesse der Allgemeinheit." Bei Gebäuden, die nicht auf der Denkmalliste eingetragen seien, sei daher von ganz entscheidender Bedeutung, "welchen Wert wir ihnen beimessen".

Unweit der Stelle, an der die alte Brennerei in Taufkirchen stand, keinen Kilometer entfernt im Kultur- und Kongresszentrum, kamen kürzlich die Orts-Heimatpfleger aus dem Landkreis München zusammen, um sich genau mit diesem nachhaltigen Gestalten ihrer Gemeinden zu beschäftigen. Vinzenz Dufter, Architekt, Städteplaner und Fachbereichsleiter Baukultur beim Bayerischen Landesverein für Heimatpflege, ging es in seinem Vortag ums Bewahren, aber auch ums Umbauen und Weiterbauen, speziell auch von Bauwerken, die wichtige Identifikationspunkte darstellen und nicht auf der Denkmalliste stehen. "Alte und neue Gebäude müssen in einen Dialog treten, der Charakter des Gebäudes muss erkennbar bleiben", sagte er in Taufkirchen. Mit diesen Randbedingungen könne man neue kreative Ideen entwickeln.

Beim Erhalt, Um- oder Weiterbau alter Gebäude geht es aber nicht allein um das Bewahren einer liebgewonnenen, prägenden Architektur aus vergangenen Zeiten. Und schon gar nicht um die Verklärung der Vergangenheit. Auch die sogenannte graue Energie spielt eine wichtige Rolle, also die Energiemenge, die für Herstellung, Transport, Lagerung, Verkauf und Entsorgung eines Gebäudes aufgewendet werden muss. Sie steckt in den Bauten. Es gibt für die Heimatpfleger also auch eine ökologische Bedeutung des Erhalts von Gebäuden. Landesvereins-Geschäftsführer Neumaier betont: "Wir vergeuden oft ohne Not sehr viel wertvolle Energie, wenn wir bestehende Bausubstanz vernichten." Zusammen mit dem Bund deutscher Architektinnen und Architekten (BDA) hat der Verein erst kürzlich wieder eine neue Bau-Moral gefordert: "Die Abreißerei muss ein Ende haben!" Dazu haben sie einen 13-Punkte-Katalog an Forderungen verfasst. Unter anderen wird dort eine Veränderung des kommunalen Wohnraumförderprogramms vorgeschlagen sowie eine Umbauordnung und die Erweiterung des Bayerischen Denkmalschutzgesetzes um die Kriterien "sozial" und "identitätsstiftend".

Als gelungenes Beispiel von Weiterentwicklung eines Bestandsgebäudes stellte Architekt Dufter den Heimatpflegern in Taufkirchen den Umbau einer Brauerei im oberfränkischen Baunach in ein Bürgerhaus vor. Unter Denkmalschutz stand das Ensemble nicht, doch hatte sich die Stadt den Erhalt des stadtbildprägenden Mälzereiturms und des östlichen Eingangstors auferlegt. Auch die maßvolle Weiterentwicklung von Wohnsiedlungen kann ein Thema für die Heimatpflege sein. Dufter verwies auf ein Bauprojekt in Regensburg, wo die Fünfzigerjahre-Siedlung "Fürst-Albert-Block" modernisiert und erweitert wurde und so ein Beitrag zur Reduzierung des Flächenfraßes geleistet wurde.

Auch im Landkreis München gibt es gelungene Beispiele solcher Weiterbauten, etwa den Pfarrhof St. Laurentius in Großdingharting. 2012 wurde die Tenne ausgebaut und auf insgesamt 115 Quadratmetern Platz für einen Versammlungsraum, das Pfarrbüro, ein Archiv, einen behindertengerechten Aufzug, Sanitäreinrichtungen, Küche und Schenke geschaffen.

Rolf Katzendobler ist als Kreisdenkmalpfleger häufig im Landkreis München unterwegs, um die Charakteristika der Ortschaften zu erfassen, neue Plätze oder Gebäudedetails zu entdecken. Er interessiere sich schon immer für Architektur, sagt er und betont: "Gebäude sind Unikate. Jedes Gebäude, wenn es verschwindet, ist ein Verlust für einen Ort." Er sieht seine Aufgabe in der Bauberatung: Er will Bauherren überzeugen, Objekte zu ertüchtigen und einer neuen Nutzung zuzuführen. Er ist dabei, wenn im Landratsamt abgewogen wird, ob ein Neubau sich im Kontext zu einem denkmalgeschützten Bestand einfügt. "Wichtig ist, dass das Denkmal genutzt wird", sagt Katzendobler.

Wenn er etwa durch den sanierten Fuchshof in Unterföhring schreitet, den ehemaligen Kuh- und Pferdestall des Einfirsthofs betrachtet, der mit einem dreijochigen böhmischen Kappengewölbe überspannt ist, geht ihm das Herz auf. Einst gehörte das prächtige Anwesen einem sogenannten Lehmbaron, also einem Unternehmer aus der Lehm- und Ziegelbranche.

Bei der Ziegelei Stöhr hingegen, auch in Unterföhring, konnte der Abriss nicht verhindert werden. An dieser Stelle wollte die Gemeinde einen großen Sportpark mit Schwimmbad errichten. Allerdings wurden diese Pläne wegen der hohen Kosten erst einmal wieder verworfen - die Ziegelei aber ist weg.

Das gleiche Schicksal hätte beinahe das alte Bahnwärterhäuschen in Unterföhring ereilt, das sogenannte Zindlerhaus, das der Gemeinde gehört und unter anderem Künstlerateliers beherbergt. Brandschutzbestimmungen und barrierefreier Ausbau sind häufig die K.o-Kriterien für den Erhalt von Gebäuden. So war der Gemeinderat zunächst auch überzeugt davon: Das Zindlerhaus steht nicht unter Denkmalschutz, also kann es weg und Platz machen für eine moderne Kita. Die Proteste gegen einen Abriss in der Bevölkerung aber waren groß, und schließlich wurde im Dezember 2017 das ortsprägende Gebäude doch auf die Denkmalschutzliste gesetzt. Inzwischen gibt es Umbaupläne.

Ziegeleien, Bahnhöfe, Brennereien - das sind neben alten Bauernhöfen und Jugendstilvillen etwa im Isartal und Würmtal oftmals Gebäude, die Katzendobler im Blick hat, wenn es um den Erhalt ortsprägender Bauwerke geht. In Putzbrunn etwa ist es 2014 nicht gelungen, die alte Brennerei zu erhalten, obwohl sie die FDP im Gemeinderat als "eines der letzten Putzbrunner Kulturgüter" bezeichnet hatte. Auf der Denkmalliste stand sie nicht. So hatte sich die Gemeinde zwar bemüht, das Gebäude abzutragen und an anderer Stelle, etwa im Freilichtmuseum Glentleiten oder im Wasmeier-Museum Schliersee, wieder aufzubauen, doch das gelang nicht. Anders hingegen ging es für die Brennerei in Aschheim aus. Der markante Ziegelbau blieb erhalten, dort wird inzwischen von der Firma "The Duke" Gin produziert.

Aktuell sorgt sich Katzendobler um das Ludwig-Göckl-Haus in Feldkirchen, das 1885 als evangelische Schule errichtet wurde und seit einer Sanierung 1970 als Bürgerhaus dient. Nun überlegt die Gemeinde, es gemeinsam mit dem benachbarten maroden Kindergarten abzureißen. Es ist ein verlockend großes Grundstück im Zentrum der Gemeinde, auf der die beiden Gebäude stehen. Doch es regt sich Widerstand. Auch bei der Erich-Kästner-Schule in Höhenkirchen-Siegertsbrunn, deren Altbau von 1950 mit Uhrtürmchen noch nicht auf der Denkmalliste steht, geht es derzeit um die Frage: Abriss oder Sanierung? Wie Katzendobler sie beantworten würde, ist klar.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5727780
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/wkr/belo
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.