Interview:"Ich bin Optimist"

Interview: Kein selbsternannter Revoluzzer, aber in gewissen Situationen durchaus pragmatisch: Landrat Christoph Göbel.

Kein selbsternannter Revoluzzer, aber in gewissen Situationen durchaus pragmatisch: Landrat Christoph Göbel.

(Foto: Claus Schunk)

Flüchtlings-Bewegungen und Corona-Pandemie: Landrat Christoph Göbel ist seit sieben Jahren Krisenmanager. Ein Gespräch über fordernde Zeiten und den Moment, als plötzlich drei Mitarbeiter in Schutzkleidung im Büro standen.

Von Stefan Galler und Martin Mühlfenzl, Landkreis München

Von seinem Büro im vierten Stock des Landratsamtes am Mariahilfplatz in der Au aus hat Landrat Christoph Göbel (CSU) einen einmaligen Blick auf das Gotteshaus, das dem Platz seinen Namen gibt. Und einmal bemüht der 47-jährige Christsoziale im Gespräch auch die Bibel und spricht von düsteren Jahren. Seit acht Jahren ist Göbel im Amt, sieben davon sind von gewaltigen Krisen geprägt. Der Landrat ist gewissermaßen im Dauer-Krisenmodus - und doch ist ihm anzumerken, dass er noch viel vorhat.

SZ: Herr Göbel, Sie haben einmal gesagt, Landrat wäre das schönste Amt der Welt. Ist das immer noch so, oder würden Sie sich manchmal woanders hin wünschen?

Christoph Göbel: Nein, ich liebe meinen Beruf nach wie vor, vielleicht sogar von Tag zu Tag mehr. Ich bin mit sehr großer Begeisterung Landrat. Schön wäre aber, sich nicht mit Themen, die weder von ihrem Anlass noch von ihrer Ausprägung her schöne Themen sind, beschäftigen zu müssen - das steht außer Frage. Aber ich wünsche mich nicht woanders hin.

Was waren Ihre eigentlichen Ziele, als Sie 2014 ins Amt gestartet sind und was ist davon eigentlich noch übrig geblieben?

Es war bestimmt nicht mein Ziel, Krisen bewältigen zu müssen. Das würde ich auch für die Zukunft niemals als Ziel ausgeben. Ich bin aber froh, Kolleginnen und Kollegen zu haben - sowohl im Landratsamt als auch im Kreistag -, die bereit sind, so eine Krise anzunehmen und auch gemeinsam gut, wie ich finde, zu bewältigen. Natürlich gibt es dabei auch Rückschläge und Enttäuschungen. Meine thematischen Ziele haben sich im Übrigen nicht verändert und wir sind konsequent an diesen Themen dran geblieben. Und diese sind auch nach wie vor vorherrschend.

Welche Themen stehen ganz oben auf der Tagesordnung?

Das Zukunftsthema schlechthin - und diese Überzeugung trage ich wie eine Monstranz vor mir her - ist die Verbesserung der öffentlichen Mobilität in der Region, der Landkreis hat da eine Sandwich-Position zwischen Umland und Stadt. Wir arbeiten an dem Thema sehr ehrgeizig und haben auch schon viel umgesetzt - entsprechend der Nahverkehrspläne, bis hin zu den ersten Schnellbus-Linien, die fahren. Man kann das auch an den Zahlen ablesen, in den vergangenen Jahren haben wir die Investitionen in den ÖPNV verfünffacht. Auf heute rund 50 Millionen Euro pro Jahr! Das zweite große Thema: Mir war sehr wichtig, dass wir die weiterführende Schullandschaft ausbauen; auch dort hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden, weg von der Zurückhaltung des Landkreises hin zu einer konstruktiven, progressiven Rolle.

Und dann wäre da noch der Klimaschutz...

Das ist das dritte Thema. Als noch keine Rede von Greta Thunberg war, waren wir im Kreistag schon der Überzeugung, dass wir sehr viel mehr werden tun müssen. Wir haben unsere Energievision über Bord geworfen, 29++ gestartet und sind in unsere heutige Energieagentur eingestiegen. Dann der große Bereich Soziales. Der Wohnungsbau, in den der Landkreis wieder aktiv eingestiegen ist. Oder das Anliegen, nicht mehr nur Reparaturwerkstatt zu sein - auch das haben wir geschafft, vor allem im Bereich Jugendhilfe konnten wir durch Prävention die Kosten für stationäre Betreuung signifikant senken.

Interview: Wieder erreichen den Landkreis München wie 2015 Tausende Geflüchtete, es wird vor allem Wohnraum benötigt.

Wieder erreichen den Landkreis München wie 2015 Tausende Geflüchtete, es wird vor allem Wohnraum benötigt.

(Foto: Claus Schunk)

Aber auch für einen Landrat hat der Tag 24 Stunden. Sie müssen diese Projekte vorantreiben und Krisen bewältigen. Was wäre denn möglich, wenn es keine Krisen gäbe?

Ja, was haben Landräte eigentlich gemacht, bevor Flüchtlinge und Pandemieviren kamen (lacht). Nein, im Ernst, deshalb ist mir das auch so wichtig: Nicht der Landrat bewältigt die Krise, nicht er allein hält an den Zielen fest. Auch in Kreistag und Kommunen ist das Engagement sehr groß - und das gilt auch für unsere Verwaltung. Mehr Aufgaben bedeutet aber auch mehr Personal. Wenn man mir gesagt hätte, unter dir steigen die Personalkosten so enorm, wie das notwendig war, ich hätte das Gegenteil als Ziel ausgegeben.

Nun haben es die Anforderungen aber auch in sich. Angefangen bei der ersten Flüchtlingswelle 2015. Wann war Ihnen klar, dass da etwas Großes auf Sie und den Landkreis zurollt?

Das ahnte ich schon, als ich unter Johanna Rumschöttel stellvertretender Landrat war. Uns war damals schon bewusst, dass wir beim Thema Flüchtlingsunterbringung eng zusammenhalten und -arbeiten müssen. Es war allerdings nicht absehbar, wie unübersichtlich auf einmal Zuwanderung erfolgt, teils auch in rechtsstaatlich ungeordneten Zuständen. Etwa die Registrierung betreffend. Jetzt gerade lernen wir wieder, wie wichtig hier Ordnung ist, die Situation ist aber auch eine andere als 2015.

Damals haben sich die Ereignisse überschlagen, wie haben Sie das erlebt?

Ich erinnere mich gut, ich war damals auf einer Dienstreise in Berlin und habe mir in Moabit eine Traglufthalle angeschaut, die der Unterbringung von Obdachlosen in Berlin dienen sollte. In dem Moment hatte ich das Gefühl: Genau das brauchen wir. Ich habe sofort mit dem Firmenchef per Handschlag ausgemacht, dass wir für den Landkreis München diese Möglichkeit der Unterbringung für Geflüchtete nutzen werden. Das war auch unser Glück, deshalb hatten wir nur vorübergehend Belegungen von Turnhallen. Glücklicherweise hat mich der Kreistag bei diesem etwas kreativen Vorgehen unterstützt. Das wiederholt sich jetzt wieder. Wir haben sofort einen Krisenstab einberufen und einen Aufruf an die Bevölkerung gestartet, Menschen aus der Ukraine privat aufzunehmen. Nur so war es möglich, bis heute bereits für mehr als 3000 Menschen Quartiere zu finden. Und wir greifen künftig wieder zu Traglufthallen und Modulbauten.

Aber kann sich ein Landrat, ein Landkreis, auf so eine Extremsituation überhaupt vorbereiten oder ist es ein Prozess, bei dem man an jedem Tag neu dazu lernt?

Ja, es ist ein Lernprozess - und jetzt schon wieder. Jede Herausforderung ist eine ganz eigene, auch wenn sie vermeintlich einer vorherigen ganz ähnlich ist. Aber es war ja auch nicht das erste Mal, dass der Landkreis Flüchtlinge aufnehmen musste. Das musste schon Joachim Gillesen (von 1970 bis 1996 Landrat, Anm. d. Red.), als im Balkankrieg sehr viele Geflüchtete kamen. Aus dieser Erfahrung wussten wir, dass es wichtig ist, sofort einen Krisenstab aufzubauen. Was ich sagen will: Man sollte die guten Erfahrungen anwenden. Leider passieren auch Fehler, teils sogar dieselben, weil wir alle Menschen sind und Menschen aus der Situation heraus Entscheidungen treffen.

Sie sprechen die Registrierung an?

Ich erinnere mich wirklich an skurrile Begebenheiten. Wir haben 2015 in Keferloh in eine Anlage von bauplanungsrechtlich fragwürdigem Zustand Flüchtlinge aufgenommen. Teils Hunderte täglich. Dann kam die Meldung, Frankreich nimmt uns Asylbewerber ab. Sie haben die Tricolore aufgestellt und nahmen nur die mit, die Französisch sprachen. Das waren aber ausschließlich Senegalesen, also aus einem sicheren Drittland und damit ohne Bleiberecht. Dann kündigte das Land Hessen Hilfe an. Es kamen fünf Busse, aber die verfuhren sich auf dem Weg nach Grasbrunn. Und als sie ankamen, hatten die Flüchtlinge ihr Zeug schon gepackt und sind weitergezogen. In der Spitze hatten wir in dieser Flüchtlingsbewegung Tage, an denen bis zu 1500 Menschen zu uns kamen und wieder gingen. An einem Tag! Das war völlig ungeordnet, wir wussten überhaupt nicht mehr, wer da kommt und geht.

Diesmal ist es anders?

Ja, es kommen entweder ukrainische Staatsbürger oder Menschen mit Aufenthaltsberechtigung in der Ukraine, die zumindest für 90 Tage frei in Europa reisen können - und es bedarf diesmal keines Asylantrags. Das erleichtert uns die Arbeit sehr.

Über allem schwebt immer noch die Corona-Pandemie. Haben Sie mit einem derartigen Ereignis gerechnet?

Nein, natürlich nicht. Bei Pandemie habe ich immer an so etwas wie die Spanische Grippe gedacht - die liegt lang zurück. Erstaunlicherweise aber waren wir relativ früh sensibilisiert, weil einer der ersten Fälle ein Webasto-Mitarbeiter aus dem Landkreis München war. Und ich erinnere mich sehr gut, dass in einer Geschäftsbereichsleiter-Sitzung Gerhard Schmid (Leiter des Gesundheitsamtes, Anm. d. Red) etwas von diesem Virus erzählt hatte - und ich hielt es für eine dieser überzogenen, chinesischen Nachrichten. Man kennt ja die Bilder von Menschen dort, die mit Maske herumlaufen, und damit vor allem der schlechten Luft in ihren Städten trotzen. Und dann sah ich Doktor Schmid das erste Mal mit einer Maske den Gang entlanglaufen - äußerst skurril.

Interview: Der Landrat beim Boostern: Christoph Göbel ist auch in der Corona-Krise im Dauereinsatz.

Der Landrat beim Boostern: Christoph Göbel ist auch in der Corona-Krise im Dauereinsatz.

(Foto: Claus Schunk)

Wann war Ihnen bewusst, dass es eine weltweite Katastrophe werden würde?

Das ging sehr schnell. Am Anfang hatten wir ja nur mit dem einen Fall zu tun, der mit leichten Symptomen im Schwabinger Krankenhaus isoliert war. Wir hatten Angst, dass er irgendwann aus dem Fenster klettert, weil ihm die Maßnahme so unverhältnismäßig erschien. Aber wir lernten schnell, dass die Ausbreitung des Virus exponentiell ist. Endgültig klar wurde mir der Ernst der Lage, als die erste betroffene Gruppe in einer Kindertageseinrichtung im Landkreis ausgerechnet die meines Sohnes war. Ich war auf dem Sprung zu einer Dienstreise nach Berlin, als drei Mitarbeiter des Gesundheitsamtes in Schutzkleidung im Zimmer standen mit der Ansage: Sie haben sich sofort in Quarantäne zu begeben.

Inwiefern haben Sie sich als Landrat in diesen Krisen auch auf eine gewisse Art emanzipiert, indem Sie Vorgaben von Land und Bund pragmatisch auslegten?

Nein, ein Landrat darf nicht ignorieren, was von oben kommt. Und ich will ja auch nicht in der Haut etwa eines Gesundheitsministers von Bund oder Land stecken, die übrigens durchwegs einen guten Job gemacht haben. Ich würde es anders formulieren: Wenn man ewig sagt, ich will mich absichern und rückversichern, hilft das nichts. Und es ist für Mitarbeiter auch wichtig, klare Standpunkte zu kennen. Der Vorgesetzte muss den Mut haben, Entscheidungen zu treffen. Dabei kann man auch mal falsch liegen - aber keine Entscheidung ist dann noch falscher. Aber ein Revoluzzer bin ich nicht.

Wann haben Sie denn mal abweichend entschieden?

Bei der Aufnahme von Geflüchteten 2015: Da bin ich wirklich froh, dass ich früh auf Beschäftigung gesetzt und das durchgehalten habe, auch gegen manche Drohungen, die mich erreicht haben.

Drohungen aus der Bevölkerung, aus der eigenen Partei?

Nein, nicht aus der Bevölkerung. Das gibt es zwar auch, aber das meine ich nicht. Auch nicht in politischer Hinsicht, etwa Kritik aus der Partei, das gab es nicht. Eher von behördlicher Seite. Ich weiß, dass man nicht glücklich war über den progressiven Kurs bei uns. Und so erfuhr ich auch von Überlegungen, mir die Zuständigkeit im Ausländerwesen wegzunehmen, wenn ich zu liberal handle. Es kam aber nie dazu, dass mir ein Verantwortlicher dies direkt gesagt hätte. Darüber hätte ich mich sogar gefreut. Weil wir ja rechtlich einwandfrei gehandelt hatten. Und wir sollten mit dem Kurs auch Recht behalten.

Lehren einen solche Krisen auch, dass die Landkreise immer mehr Aufgaben übernehmen müssen, die ihnen von Bund und Land übertragen werden?

Ausdrücklich für die Krisen würde ich das nicht behaupten. In so einer Krise ist es ganz wichtig, dass die kommunale Ebene eingebunden wird und handelt. Ich beklage ja eher für die Corona-Pandemie, dass mir Handlungsspielräume nicht gegeben worden sind. Wenn so etwas funktionieren soll, geht es nur, wenn man ganz unten, ganz nah bei den Menschen Entscheidungskompetenzen aufbaut und individuelle Lösungen ermöglicht.

Aber...

Es gibt immer mehr Themen, in denen die kommunale Ebene in Anspruch genommen wird und damit an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gerät. Beispiel soziale Sicherung. Oder der ÖPNV, ein echter Kritikpunkt. Ich begrüße absolut, dass in Taufkirchen die Fakultät für Luft- und Raumfahrt angesiedelt wird - aber das muss zwingend mit einer vernünftigen verkehrlichen Erschließung einhergehen. Dann kommt aber der Staat und sagt: Das ist deine Aufgabe. Aber eben freiwillig. Und wir haben dreistellige Millionenbeträge zu schultern und keinen Anspruch auf Übernahme der Kosten durch den Staat. Der diese aber verursacht!

Droht die Gefahr, dass der Landkreis angesichts immer neuer Aufgaben finanziell in die Knie geht?

Nein, die Gefahr droht nicht. Wir sind immer noch leistungsfähig. Darauf achten wir auch.

Diese Herausforderungen gehen ineinander über, selbst die von 2015 wirkt noch nach.

Es ist richtig, wir haben noch immer 3000 Menschen, die 2015 hierhergekommen sind, bei uns. Und deren Sprung in den Arbeits- und Wohnungsmarkt ist im Landkreis München erheblich schwieriger als anderswo. Ich hoffe, dass all diese Krisen vielleicht die Chance in sich tragen, dass wir daraus lernen. Ich bin Optimist.

Also keine Angst vor neuen Krisen?

Nein, Angst ist ein schlechter Ratgeber. Und es steht doch schon in der Bibel, dass es sieben düstere Jahre sind. Es wäre jetzt also die Zeit für die sieben guten Jahre.

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