Süddeutsche Zeitung

Historie:Ein Ort für all das, was einmal war

Wolfgang Jirschik hat das ideelle Erbe seines Freundes und früheren Baierbrunner Heimatpflegers Alfred Hutterer übernommen. Er baut in dessen Haus ein Gemeindearchiv auf.

Von Udo Watter, Baierbrunn

Wer sich für die Vergangenheit interessiert, der hat auch ein besonderes Verhältnis zur Vergänglichkeit. Das gilt im Besonderen für Historiker, Archivare oder Chronisten. Konfrontiert mit archäologischen Funden oder historischen Dokumenten, denen der Zahn der Zeit zugesetzt hat, wollen sie dieser Zersetzungsmacht etwas entgegen setzen. Bewahren, die Vergangenheit transferieren, sie für kommende Generationen gegenwärtig machen. Ohne Herkunft keine Zukunft, heißt es.

Für Alfred Hutterer, den langjährigen Baierbrunner Ortschronisten und Gemeinderat, der 2019 im Alter von 71 Jahren starb, war dieses geschichtliche Bewusstsein, die Neugier und ein entsprechend gesellschaftlicher Auftrag prägend. Sein Haus an der Hermann-Roth-Straße hat er der Gemeinde vererbt, unter anderem mit der Auflage, dort ein präsentables Gemeindearchiv einzurichten. Wolfgang Jirschik, langjähriger Weggefährte und Freund Hutterers sowie Fraktionskollege in der ÜWG (Überparteiliche Wählergruppe), obliegt es nun, seine Scherflein zur Realisierung dieses Zieles beizutragen.

In der alten Fassade lauern Schadstoffe

"Es ist hier sehr, sehr viel zu tun", sagt der 71-Jährige, der bis 2020 Baierbrunner Bürgermeister war. Zum einen muss das nicht mehr ganz taufrische Haus, Baujahr 1970, wohl kernsaniert werden. Es geht darum, Schadstoffe aus der alten Fassade rauszunehmen, diese zu erneuern (wohl Holzfassade) sowie das Dach, Heizungsanlagen und Grundleitungen müssen erneuert, voraussichtlich auch Böden ausgetauscht werden. Der etwas verwilderte Garten harrt ebenfalls eines gärtnerischen Eingreifens.

Prinzipiell soll das Archiv in den ersten Stock einziehen, das Parterre soll vermietet werden. Für Jirschik, der Hutterers Nachfolger als Gemeindearchivar ist und bei sich zuhause auch eine Sammlung von Zeugnissen zur Ortsgeschichte beherbergt, gilt es vornehmlich, die hier weilenden historischen Objekte, Bücher, Zeitungsartikel, Dias und Ordner zu sichten und strukturell zu erfassen - aber auch Bilder, Scherben, Knochen, Flaschen, Gläser, Eissägen und andere Alltagsgegenstände, die in den Zimmern verteilt sind: in Kisten verpackt, oder thematisch in Ordnern gesammelt. "Um das Haus kümmern, Ordnung schaffen", beschreibt Jirschik seine Aufgabe.

2026 findet die 1250-Jahrfeier Baierbrunns statt

Eine durchaus anspruchsvolle Aufgabe. Ein weiteres Problem ist, so befürchtet er, dass es knapp werden könnte mit dem Ziel, das Gemeindearchiv im Jahr 2026 zur 1250-Jahrfeier von Baierbrunn der Öffentlichkeit präsentieren zu können. Der Gemeinderat, der ja noch unter Jirschiks Zeit als Bürgermeister beschlossen hatte, das Erbe anzunehmen (als "Nacherbe" wäre sonst das Kloster Schäftlarn bestimmt), ist in seiner jüngsten Sitzung jetzt noch mal konkreter geworden, was die Umbaupläne betrifft, und finanziell wagemutiger. Man habe sich für "die große Version" entschieden" so Bürgermeister Patrick Ott (ÜWG), auch, um dem Vorbildcharakter der Gemeinde in puncto energetische Sanierung gerecht zu werden.

Grob geschätzt wären die Projektkosten rund 640000 Euro, an staatlichen Fördermitteln wären um die 100000 Euro zu erwarten, Geld aus dem Erbe von Hutterer flösse mit ein, ein sechsstelliger Betrag im niedrigeren Bereich. Insgesamt hätte die Kommune also eine erkleckliche Summe zu investieren. Die staatlichen Förderungen müssen nun beantragt werden, ihre Bearbeitung ziehe sich erfahrungsgemäß eine Weile hin, so Jirschik, der eh ein bisschen mehr Dynamik in puncto politischer Entscheidungsprozesse goutiert hätte: "Es wäre wünschenswert, dass der Prozess beschleunigter abläuft, damit die Sanierung rechtzeitig gemacht werden kann."

Bei aller Skepsis einer ordnungsliebenden und gewissenhaften Persönlichkeit wie Jirschik, freut ihn natürlich das Durchstöbern der von Hutterer gesammelten Objekte und die Aussicht auf kleine hübsche Entdeckungen. Da ist etwa in einer Kiste, die in der Küche steht, eine leere Limoflasche mit der Aufschrift "M. Bichlmeier, Pullach", das süße Getränk wurde vor Jahrzehnten noch im Isartal hergestellt, Jirschik kann sich erinnern, dass er es als Bub getrunken hat. Lokalhistorisch wichtig sind die diversen, nach Themen wie "Dorfkirche", "Bodenfunde", "Gedichte", "Kino" oder "Kloster Schäftlarn" eingeteilten Ordner mit Dokumenten, die Hutterer geführt hat. Er selbst hat Bücher geschrieben ("Am Brunnen der Baiern", "Der Alte Friedhof in Baierbrunn"), den örtlichen Heimatverein gegründet und war Vorsitzender des Bund Naturschutz. Als "Gedächtnis von Baierbrunn" hat ihn Jirschik bezeichnet.

Das "Scherbenzimmer" mit Panoramafenster zur Straße, wo derzeit noch auf einem großem Tisch viele archivalische Zeugnisse liegen, auch Tassen, Services und Eissägen, soll mal das Herzstück des Archivs werden. "Es sind viele kleine Dinge, die an Vergangenes erinnern", so Jirschik. An den Wänden hängen Landschaftsbilder und auch ein 2009 entstandenes Porträt von Hutterer ist hier zu finden. Auf eines freut sich Jirschik, der seit seiner Jugend alles mögliche zur Natur- und Kulturgeschichte sammelt, besonders: "Das Ganze dann einzurichten, wird mir am meisten Spaß machen."

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SZ vom 21.08.2021
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