Kultur im Landkreis:Bis an die Grenzen des Zumutbaren

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Liebesaffäre mit einer Ziege, die Fragilität der Demokratie, Existenz Gottes - auf den Bühnen des Landkreises sind in diesem Jahr spannende Themen behandelt worden - und die ewige Frage, was Kunst darf, soll oder muss

Von Udo Watter

Bleiben Sie entspannt" - so lautet seit vielen Jahren das prägende Motto von Klassik Radio. Zu manchen Sendezeiten vernimmt es der Hörer mit einer geradezu leitmotivischen Penetranz, vorgetragen wahlweise von einem cremig-weichen Frauentimbre oder einer kultiviert vibrierenden Bassstimme. Ist es das? Musik zum Wohlfühlen und Entspannen. Wellness für die Ohren.

Oder anders gefragt: Will das Gros der Hörer, der Bildungsbürger, der Kulturfreunde heute nur noch gefällige Häppchen, die sie stilvoll einkuscheln, die nicht das Risiko bergen, sie essenziell zu (über)fordern? Und wenn sie sich dann in die Oper oder ins Konzert bewegen, möchten sie dort den Kunstgenuss lediglich wie eine hübsch servierte Dienstleistung ohne Verstörungspotenzial empfangen?

"Das Theater hat für mich auch einen Kulturauftrag", sagt der Regisseur Bernd Seidel. Er hat in diesem Jahr am Ottobrunner Wolf-Ferrari-Haus das Stück "Die Ziege oder Wer ist Sylvia?" inszeniert und man darf behaupten, die Geschichte um einen Familienvater, der sich in eine Ziege verliebt und diese vögelt, hat ein bisschen Staub aufgewirbelt. Begleitet von auffälligen Abwanderungs- oder Wechselbewegungen bei dem speziellen Abo-Zweig mit Edward Albees Ziegen-Stück, in der Gemeinde wird darüber im Vorfeld kontrovers diskutiert, und der ein oder andere Besucher kann dann bei der Premiere im Oktober mit der recht unverblümten Sprache wenig anfangen. Seidel, der schon viele (unkonventionelle) Produktionen in Ottobrunn auf die Bühne gebracht hat und das Stück anschließend auch im Unterhachinger Kubiz zeigt, nimmt die Reaktionen im Vorfeld jedenfalls zum Anlass, sich in einem Interview Luft zu verschaffen und die Gretchenfrage zu stellen, welche unkonventionellen Stoffe überhaupt noch an Bürgerhäusern möglich respektive einem Abo-Publikum zumutbar seien.

Zu was uns Liebe alles treiben kann? Manuel Castillo und Patrick Gabriel in "Die Ziege oder Wer ist Sylvia?". (Foto: Claus Schunk)

Die Premiere in Ottobrunn ist dann aber doch recht gut besucht, und das Publikum zeigt sich von der Inszenierung großteils angetan. Es wird kein forcierter Skandal, sondern eher die fantasievolle, schauspielerisch starke Umsetzung der Frage, wie weit Liebe gehen darf und wo die Grenzen des Akzeptablen in einer liberalen Gesellschaft sind.

Und wo sollten sie denn sonst gestellt werden, die existenziellen Fragen als im Raum der Kunst? (Und warum auch nicht mal auf unanständige, den guten Geschmack herausfordernde Weise?). Eine philosophisch-bairische Antwort auf quasi alles Wesentliche ist: "Gwiss is nur, dass nix gwiss ist." So lautet der Subtext im Titel einer bairischen Macbeth-Inszenierung, mit der die Münchner Volkssängerbühne im Februar ihre Premiere in ihrer neuen künstlerischen Heimat, dem Kleinen Theater Haar, feiert. Das Publikum ist dem Ensemble jedenfalls auch jenseits der Stadtgrenzen treu geblieben, die Vorstellungen in Haar sind sehr gut besucht. Das Jugendstilkleinod ist ohnehin zu einem Hotspot für Volkstheater geworden - der BR zeichnet dort regelmäßig auf ("Komödienstadel") - aber das Alleinstellungsmerkmal des Hauses ist natürlich ein anderes: Das vom Bezirk Oberbayern und der Gemeinde Haar unterstützte Theater widmet sich dezidiert der sozialen oder Inklusions-Kultur. So ist es auch Spielstätte für Theatervorstellungen von Ensembles mit behinderten Schauspielern oder von Ausstellungen mit Werken psychiatrieerfahrener Künstler. Mit der Abo-Reihe "Seelen-Art" werden zudem seit Jahren Projekte für seelisch erkrankte Menschen realisiert. "Kultur fängt im Herzen eines jeden einzelnen an", sagt Theaterleiter Matthias Riedel, der die finanziell lange kriselnde Institution in ruhigere Fahrwasser geführt hat.

Viel Theater gibt es auch anderswo im bevölkerungsreichsten und wohlhabendsten Landkreis des Freistaats, der dementsprechend mit zahlreichen Kulturzentren und Bürgerhäusern gesegnet ist. Gastspielvorstellungen mit mal mehr, mal weniger prominenten Schauspielern, von Unterschleißheim über Garching und Aschheim bis Pullach und Taufkirchen. Komödien, Tragödien, Tragikomödien. Produktionen bekannter Tourneetheater wie Euro-Studio Landgraf, des Freien Landestheaters Schwaben, der Shakespeare Company oder auch ein Gastspiel des renommierten Theaters an der Ruhr, das in Pullach Woody Allens Bühnen-Farce "Gott" zeigt. Eine Besonderheit sind stets die Ballettproduktionen von Choreograf Johannes Härtl, der als Artist in Residence im Bürgerhaus Unterföhring inszeniert. Für die in Grünwald beheimateten Theatergastspiele Kempf - eines der bekanntesten Tourneetheater im deutschsprachigen Raum - fällt dagegen der letzte Vorhang. Die Leiterin Margrit Kempf hört aus Altersgründen auf.

Dagmar Geppert als Staubsauger-Bunny in Woody Allens "Gott". (Foto: Claus Schunk)

Dass die Menschen im Landkreis nicht nur gerne Kultur genießen, sondern auch selbst gestalten, beweisen sie regelmäßig. Besonders tun sich dabei in vergangenen Jahren die Oberhachinger hervor, die unter Leitung der SZ-Tassilo-Preisträgerin Ricarda Geary auch heuer wieder eine Oper aufführen: Diesmal ist der Schauplatz indes nicht die Maschinenhalle zu Ödenpullach, sondern die felsige Open-Air-Bühne im Gleißental. Perfekt für den Stoff: Henry Purcells Oper "The Fairy Queen", die auf Shakespeares "Sommernachtstraum " basiert, der wiederum in einem verzauberten Wald spielt. Auch das Ensemble des Jungen Bürgerhauses Unterföhring zeigt in einem selbst erarbeiteten Stück ("Der Kanzler") am Beispiel eines Dorfes überspitzt, wie schnell die Stimmung umschlagen und eine Demokratie zerstört werden kann. Die Garchinger bringen ebenfalls eine Eigenproduktion auf die Bühne: Die Garchinger Pfeifer - auch sie wurden schon mit dem SZ-Tassilo-Preis prämiert - präsentieren die 1728 in London uraufgeführte "Beggar's Opera" mit historischen Instrumenten. Darüber hinaus gibt es etliche rührige und ambitionierte Laientheatergruppen im Landkreis, welche die mutmaßlich für den bayerischen Stamm so charakteristische Lust am Bühnenspiel ausleben.

Die Frage, was Kunst soll oder muss, wie weit sie gehen darf, wird weiterhin die Menschen beschäftigen und weder auf der Bauernbühne im Wirtshaus noch im Festsaal des Wolf-Ferrari-Hauses letztgültig beantwortet werden. Hochkultur, Subkultur, Trivialkultur? Komödienstadel oder Shakespeare? Günter Grünwald oder Gerhard Polt? Blasmusik oder Streichquartett? Die Grenzen sind fließend, und manchmal ist es nur ein kleiner Schritt von Klasse zu Kitsch, aber auch vom legitimen Anspruchsdenken zum intellektuellen Dünkel. Bernd Seidel ist einer, der mit seiner extravaganten Art durchaus polarisiert, aber wer ihm antibürgerliche Arroganz vorwirft oder reine Lust an der Provokation, kennt ihn schlecht: "Ich bin ein emotionaler Mensch und glaube an die Veränderungskraft der Kunst", sagt er.

© SZ vom 28.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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