Süddeutsche Zeitung

Kreis und quer:Der Zeitgeist im Sommerloch

Der alte, weiße Mann ist out, das Dinner in White hingegen in. Das erfordert eine gewisse ubiquitäre Weltläufigkeit

Kolumne von Udo Watter

Sicher, Landkreisbewohner, die den August statt auf Mallorca oder Sardinien zwischen den Breitengraden von Aying und Unterschleißheim verbringen, sind zurückgeblieben. Aber auch als Zurückgebliebener kann man am Fortschritt teilnehmen, indem man zum Beispiel einen Seitensprung vom Auto zum E-Scooter wagt und neuartige mobile Glücksgefühle erfährt. Freilich ist die Benutzung der polarisierenden Trittbrettgefährte vor allem eine urbane Angelegenheit und eher Freizeitspaß. Jenseits der Stadtgrenzen verlässt man sich dann doch verstärkt auf SUV oder S-Bahn.

Andere Zeitgeistphänomene machen nicht Halt an den Ortsschildern. Der spezielle Münchner Trend der architektonischen Höhenangst, welche den Isarweltstadtbürger befällt, sobald er die fünfstöckige Skyline seiner Weltstadt gefährdet sieht, erfasst immer wieder auch die Peripherie: Der geplante Wohnturm am Unterschleißheimer Business Campus etwa soll jetzt von 70 Meter auf unter 50 Meter schrumpfen. Während man ob mangelnden Muts zur Höhe Gefahr läuft, als provinziell abqualifiziert zu werden, gibt es andere Trends, die eine ubiquitäre Weltläufigkeit für sich beanspruchen. So erfreut sich im Gegensatz zu dem aus der Mode gekommenen alten weißen Mann das Dinner in White einer trendigen Reputation. Das Phänomen hat den Weg von den Metropolen in ländliche Regionen gefunden. Ob in Ismaning, Haar oder Höhenkirchen-Siegertsbrunn, wo das diese Woche ausgefallene Dîner en blanc nun am kommenden Montag statt finden soll - das Massenpicknick in Weiß gewandeter Menschen ist jetzt auch im Landkreis hip. Generell kann man feststellen, dass alle Festivitäten, die intensives orales Konsumieren und den Einsatz uniformer Mode erfordern (auch Starkbieranstiche, Trachtenfeste oder Burschenfeiern) in ihrer Frequenz zunehmen.

Eingedenk Gerhard Polt kann man fragen: Braucht's des? Muss heute jeder Trend bis zur Neige ausgeschöpft werden? Welches Verhältnis hat der Zeitgeist zum Weltgeist? Gerade jetzt, wo die sommerliche Blüte der Entschleunigung zu Ende geht und der Ernst des Lebens - Schuljahresbeginn, Arbeitsalltag, Oktoberfest - wieder näher rückt, wäre noch genügend Muße, sich solchen Fragen zu widmen. Pfeilgrad gesagt: Der Sinn des Seins ist Zeit und der Zeitpfeil fliegt irreversibel dahin. Nichts ist im eigentlichen Sinne wiederholbar, auch wenn wir gerade durch Wiederholung, durch Ritualisierung das Phänomen Zeit und Vergänglichkeit in den Griff zu bekommen suchen. Um aber transzendentales Daheimsein zu empfinden, hilft nicht nur Wiederholung oder das Andocken an den Zeitgeist, sondern auch das Entdecken von Neuem: Wer sonst gern beim Dorffest des Burschenvereins Fassbier trinkt, könnte am 6. September nach Aschheim fahren, um das Weinfest des örtlichen Madlvereins zu besuchen; dort gibt's laut Homepage zwar auch was "Gscheids zum Essen", aber vor allem Getränke in White and Red.

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Quelle:
SZ vom 24.08.2019
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