Süddeutsche Zeitung

Kostenloser Nahverkehr:Sind Sie Nord oder Süd?

Ein kostenloses Linientaxi bringt vor allem Senioren und Schulkinder in alle Ecken Grünwalds.

Von Claudia Wessel, Grünwald

Ein wenig skeptisch ist der Blick des älteren Herrn schon, der an einer der Haltestellen in der südlichen Wohnsiedlung, weit weg vom Ortszentrum, einsteigt. Vielleicht fühlt er sich auch nur unsicher, als er über auf dem Boden liegende Kinderroller, Schulranzen und Jacken steigt und sich auf einem freien Platz niederlässt. Auf den Sitzplätzen hinter ihm ist einiges los. "Alter, weißt du wie viel das kostet?" ruft eines der Grundschulkinder, die mit ihren Handys hantieren. Ein Blick ins Gesicht des Seniors zeigt, dass er davon nicht genervt ist, vielmehr huscht ein Lächeln über seine schmalen Lippen. "Wie junge monkeys", sagt er mit einem leichten englischen Akzent über die jungen Mitfahrer im Linientaxi auf der Route Süd und lacht. "Die haben noch Leben."

Das Linientaxi ist eine Grünwalder Besonderheit und als kostenlose Beförderung einzigartig im Landkreis München, wie Hauptamtsleiter Tobias Dietz versichert. Zwei kleine Busse der Firma Geldhauser kurven Montag bis Freitag von 7 Uhr bis etwa 18.30 Uhr durch den Ort in jede noch so abgelegene Ecke. Sie bringen jeden Bürger zur Trambahnhaltestelle am Derbolfinger Platz. "Das Linientaxi fungiert als Zubringer zum öffentlichen Nahverkehr", sagt Dietz. Damit trage es zur Vermeidung des Individualverkehrs entschieden bei und minimiere den CO2-Ausstoß.

Fahrgast des Linientaxis

"Ich habe noch mein Auto. Aber mit meiner Makuladegeneration ist es doch vernünftiger, das Linientaxi zu nehmen."

Die ungewöhnliche Beförderungsmöglichkeit besteht seit dem Jahr 1985. Sie wurde damals unter Bürgermeister Hubertus Lindner, Parteifreie, eingeführt. Mit dem Wachstum der Gemeinde wuchs auch das Streckennetz, 2007 wurde der Nordkurs ins Leben gerufen, sodass das Linientaxi heute auf zwei Routen fährt, dem Südkurs und dem Nordkurs. Da die Busse ihre Route in jeder Runde wechseln, steht die Richtung nicht am Bus. Fahrgäste fragen daher immer wieder, bevor sie einsteigen: "Sind Sie Nordoder Süd?"

Seit dem 1. Januar 2018 ist das Mitfahren sogar kostenlos, eine Neuerung, die auf Antrag der CSU-Fraktion eingeführt wurde. Die Gemeinde lässt sich diesen Service circa 20 000 Euro im Monat kosten. Damit ist sie bei den Trendsettern: In Aschaffenburg fahren Bürger seit Advent 2018 samstags kostenlos Bus, Luxemburg plant, von 2020 an den gesamten öffentlichen Nahverkehr kostenlos zu machen, um den Autoverkehr zu verringern. Auch die Bundesregierung hat im Februar 2018 einen entsprechenden Vorschlag gemacht, auf den die Bürgermeister unterschiedlich reagierten. Beim MVV diskutierte man das Thema.

Grünwald kann es sich dank seiner guten Finanzlage leisten, die Idee einfach umzusetzen. Angeregt wurde das kostenlose Fahren bereits 2013 von der CSU-Fraktion, doch können erst seit Sommer 2017 die Kommunen selbst die Beförderungsbedingungen ändern. Das Linientaxi ist sehr gefragt, versichert Tobias Dietz. Zahlen kann man allerdings nicht nennen, da keine Fahrkarten verkauft werden.

Den Eindruck, dass die praktische und kostenlose Fahrt beliebt ist, gewinnt man auch bei ein paar Proberunden. Nicht an jeder Haltestelle steigt jemand ein, das würden auch die rund 15 Sitzplätze in den Kleinbussen nicht hergeben. Aber ganz leer fahren sie so gut wie nie. Der kleine Raum ist kontaktfördernd, anonym geht es darin ganz und gar nicht zu. Die Fahrer Shahin Zeka und Hajdar Shegi kennen sehr viele und sehr viele kennen sie. "Na, Emma, was machst du heute?" fragt Zeka ein Mädchen. "Ich fahre zu meiner Freundin, die hat Geburtstag." "Und da bist du eingeladen?" "Heute kommen ihre Oma Uta und ihr Opa Hans und ihr Opa Peter und ihre Oma Anna und ihre Mama und ihr Papa..."

Die Liste der Gäste setzt sich noch eine Weile fort, sehr zum Amüsement einer älteren Frau auf dem Schwerbehindertensitz. Je mehr Namen Emma nennt, desto breiter wird das Grinsen der betagten Dame. Man bekommt den Eindruck, dieser Moment sei für sie wie ein Geschenk. Und das ist wohl auch der Fall. Im Linientaxi treffen vor allem zwei Generationen aufeinander, die sich sonst womöglich nicht mehr so oft begegnen: Frauen und Männer, die sichtlich an die 80 oder 90 Jahre gehen, und Grundschulkinder, die mit den Bussen die Martin-Kneidl-Grundschule ansteuern.

An dieser Station halten beide Linien, Nord- und Südrunde. Kleine "monkeys", Äffchen, sind also immer an Bord. Für die älteren Fahrgäste eine anregende Adrenalin-Dusche, denn die Kinder sind laut und vergnügt und auch ein wenig chaotisch. Bei der Rundfahrt durch den nicht allzu großen Ort wird der Kontakt aber nie unerträglich lang.

Manche Senioren scheinen den Bus gar zum Zeitvertreib zu nutzen, was bei kostenlosem Fahren gut machbar ist. Die ältere Frau etwa, die nach dem Einsteigen fragt: "Wie fahren wir denn jetzt? Fahren wir auch zum Rathausplatz?" Fahrer Shahin Zeka, mit dem man sich bequem von jedem Platz aus unterhalten kann, ruft von vorne: "Aber das wissen Sie doch, dass wir da nicht hinfahren, nur zum Derbolfinger Platz. Sie fahren doch jeden Tag zehnmal mit."

Nicht nur diese Frau ist offensichtlich Stammgast in seinem Bus. So manche Mitfahrerin schiebt dem Fahrer, nachdem er den Rollator in den Bus gehoben hat, wortlos ein Trinkgeld zu. Manche legen schon beim Einsteigen etwas hin. Mit einem so herzlichen "Grüß Gott" wie dem von Zeka in einem Bus begrüßt zu werden, ist aber auch eine Seltenheit. Auch beim Aussteigen reichen die Fahrer immer gerne ihren Arm. Wer mag, kann von ihnen auch eine kleine Ortsführung erhalten. So wie der Opa mit Stadtplan in der Hand, der zu Besuch ist und heute eine Testfahrt mit dem Linientaxi macht. "Morgen muss ich meinen Enkel zum Sport in den Freizeitpark bringen", erzählt er. Ein begehrte Haltestelle bei Senioren ist natürlich auch der am Ortsende liegende Waldfriedhof.

Das Linientaxi ermöglicht den älteren Grünwaldern auch, vernünftig zu sein. "Wir haben ein Auto zu Hause stehen", sagt etwa Anneliese Lautenschlager, 83. "Aber mit meinem Fuß ist das schwierig." Auch der Herr mit dem englischen Akzent gibt zu. "Ich habe noch mein Auto, und eigentlich sehe ich auch noch alles. Aber mit meiner Makuladegeneration ist es doch vernünftiger, das Linientaxi zu nehmen. Vor allem, wo es genau vor unserem Haus hält."

Eine neue Haltestelle wird es von Mai an geben: am Haus der Begegnung. Auch diese wird dem Taxi sicher neue Fahrgäste bescheren. Und vielleicht einem möglichen Nachfolger des Cafés Grün auch ein paar mehr Gäste als dem Vorgänger.

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Quelle:
SZ vom 20.04.2019
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