Beim Einsingen miauen die Vögel. Und lockern sich dabei mit schlängelnden Oberkörper- und Armbewegungen. Was die funktionale Formschönheit der Übung angeht, sieht Chorleiterin Eva Lücking zwar in dem Moment noch Luft nach oben, aber wenige Minuten später sind die Stimmbänder ihrer fantasievoll gefiederten Sängerinnen und Sänger doch entspannt genug, dass sie mit Intensität und geschmeidigen Timbre den Song „Into the Mirror“ im Kleinen Theater Haar erklingen lassen.
Es ist das finale Stück des Musicals „Konferenz der Vögel“, das inspiriert ist von einer Parabel des persischen Sufi-Dichters Farid Ud Din Attar, die im 12. Jahrhundert verfasst wurde (Mantiq at-tair, wörtlich „die Rede der Vögel“). In diesem, in der islamischen Welt berühmten poetischen Werk brechen Tausende Vögel auf, um den idealen König für ihr Volk zu suchen. „Es ist eine Initiationsreise“, sagt Lücking. „Der Zustand der Welt hat sich als so unerträglich erwiesen, dass die Vögel sich auf diese Reise begeben müssen.“
Die 71-Jährige, die viele Jahre Musiklehrerin am Sophie-Scholl-Gymnasium in München war und an der Volkshochschule Haar als Dozentin Chöre leitet, hat die Stücke zu dem Musiktheater komponiert. Auch die Texte sind zwar vom islamischen Mystiker Attar angeregt, aber im Wesentlichen selbst verfasst. „Es gibt bestürzende Parallelen zum Jetzt“, erklärt Lücking. Das wird später während dieser Probe an Textstellen wie „Unsere Welt zerfällt in tausend Stücke“ oder „Wo ist unsere Seele?“ oder „Gauner und Betrüger führen uns, und keiner weiß, wohin“ deutlich. Wer denkt da nicht an gewisse aktuelle Staatenlenker?
Am Samstag, 26. Juli, ist die Premiere dieser Eigenproduktion, an der rund 50 Mitwirkende beteiligt sind, darunter Sängerinnen und Sänger von drei Chören (aus München und Haar) sowie mehrere Musiker mit dem als „Special Guest“ firmierenden syrischen Oud-Spieler Abathar Kmash. Eine weitere Aufführung im Kleinen Theater ist am Sonntag, 27. Juli.
Lücking, die in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder große Musiktheater-Produktionen im Raum München vornehmlich mit ihren Schulchören realisiert hat, ist als Komponistin, Chorleiterin und Regisseurin eindeutig der Spiritus Rector des vom Kulturfonds Bayern und der Gemeinde Haar geförderten Projekts. Das Stück selbst wurde aber, wie sie erzählt, in fruchtbarer Zusammenarbeit mit den Protagonistinnen und Akteuren entwickelt – eine erste Werkstatt-Aufführung gab es bereits im vergangenen Jahr.

Das Musiktheater ist zum einen ein Hingucker. Nicht nur die selbst designten Kostüme, sondern auch das digitale Bühnenbild mit seinen abwechslungsreichen, beweglichen Motiven bieten Schauwert. Die choreografischen Elemente suchen den Plot dramaturgisch zu untermalen, da die Bühne im Kleinen Theater und die Räume direkt davor nicht übermäßig viel Platz bieten, ist das bei der Anzahl der mitwirkenden Menschen nicht immer ganz einfach. Im Gegensatz zum Einsingen gibt’s dann in den ersten Szenen bei den Vogelmenschen kein Miauen, sondern auch artgerecht aufgeregtes Gezwitscher oder sanft wogendes Flügelschlagen.
Und das ist zum anderen natürlich die Musik. Die Qualität der drei Chöre ist unterschiedlich, so Lücking. Es sind alles Laien, die aber mit einer offenkundig großen Begeisterung diese über zwei Jahre dauernde Produktion jetzt final realisieren wollen. Die Altersspanne reicht von 15 bis 71 Jahre. Auch Lückings Kinder Anna und Jakob, die beide eine musikalische Grundausbildung haben, wirken mit. Der kleinste der drei Chöre besteht aus Gymnasiastinnen, die viel Verve und gesangliche Power mitbringen.
Das Stück hätte schon vor Jahren umgesetzt werden sollen, dann kam die Pandemie
Das Stück ist eine Art Crossover zwischen orientalischer und europäischer Musik. Gesungen wird auf Deutsch, aber auch auf Englisch. Manche Songs sind schwungvoll, im vertraut-dramatischen „Musical“-Stil komponiert, etliche beruhen aber auch auf arabischen Tonleitern und Melodien. Afrikanische Rhythmen und europäische Harmonien prägen das Klangbild ebenfalls.
Für Eva Lücking, die das Werk schon vor etlichen Jahren an ihrer Schule umsetzen wollte, wo die endgültige Realisierung dann der Pandemie zum Opfer fiel, war die aktuelle Produktion die schöne Gelegenheit, endlich mal die Klangwelt der Oud zu integrieren. Und in Abathar Kmash einen von ihr geschätzten Spieler dieser persischen Kurzhalslaute zu finden.

Die Vögel kommen auf ihrer beschwerlichen und oft mühseligen Reise durch verschiedene Täler, das Tal des Schlafes, des Todes, der Liebe und des Hasses, darunter sind auch Täler, die nicht im persischen Original vorkommen. „Es ist eine modernisierte Fassung“, sagt Lücking. Ganz am Anfang, als sich verschiedene Gruppen von Vögeln konfrontativ gegenüberstehen, singt die eine Seite: „Wer hat euch erlaubt, so gut zu leben?“ Diese Worte sollen, wie Lücking erzählt, russische Soldaten zu Beginn der Invasion in die Ukraine als Graffito in einem geplünderten Haus hinterlassen haben.

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Die mystisch-spirituelle Komponente ist generell von immenser Bedeutung: Es geht um Gier und Wut, welche die Menschen zerfressen, und von denen man sich lösen soll. Das Reinigen und ,Entwerden‘ spielt im Sufismus eine große Rolle. Der mythische Vogel Phoenix kommt vor und in den gefiederten Wesen, die durch die Täler reisen, spiegelt sich auch die Vielfalt menschlicher Charaktere. Die Nachtigall singt: „Ich bin die Begleitung der Liebe. Ohne mich springen die Saiten der Geige.“
Als ihnen am Ende der Reise, am Berg der Ankunft, der dortige „Hausmeister“-Vogel mitteilt, der weise Königsvogel – das archetypische Seelentier – sei nicht mehr da, bedarf es einer Aktion des frechen Spatzen, der in der Folge doch noch die Beantwortung ihrer Fragen nach Erlösung zeitigt. Dabei spielen Spiegel eine Rolle: „Into the Mirror.“
Lücking, die am Klavier sitzt, spielt und dirigiert, wirkt zwar manchmal zerbrechlich, aber auch voller innerer Energie, und wie sie mit Chor respektive den Darstellern interagiert, ist beeindruckend. Sie schwärmt von der lebenslangen Möglichkeit, Musiktheater zu machen: „Es ist eine unfassbar schöne Arbeit.“
Premiere: Konferenz der Vögel, 26. Juli, Kleines Theater Haar, Beginn 19 Uhr, eine weitere Vorstellung ist am Sonntag, 27. Juli, Beginn 18 Uhr, Kleines Theater Haar. Karten über die Homepage des Theaters respektive München Ticket.

