Süddeutsche Zeitung

Klimaschutz:Mit dem richtigen Wumms

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Unterhaching will bis 2030 klimaneutral sein - das wäre ein Sprint anstelle eines Marathons. In Bürgerwerkstätten werden Maßnahmen erarbeitet, die auch mal über bisherige Ansätze hinaus gehen.

Von Iris Hilberth, Unterhaching

Punkt Mitternacht wird am 31. Dezember 2029 in Unterhaching nicht nur ein neues Jahrzehnt anbrechen, sondern die Zukunft: Auf allen Dächern wird dann Photovoltaik montiert sein und auf den Feldern werden Solarpanels stehen, unter denen Schafe weiden oder Salat angebaut wird. Drei Windräder werden sich im Perlacher Forst drehen und seit vier Jahren ist ganz Unterhaching autofreie Zone. Lastwagen liefern ihre Ware im Micro-Hub am Ortsrand ab, von wo aus diese mit Elektro-Microvans und Lastenrädern zum Ziel transportiert wird. Unterhaching will 2030 klimaneutral sein.

So könnte sie aussehen, die emissionsfreie Gemeinde, die erste "Netto-Null-Kommune" im Landkreis München, die alle erdenklichen Maßnahmen zum Klimaschutz umgesetzt und ihr Ziel entsprechend der Definition des Umweltbundesamt erreicht hat. Darin heißt es: "Klimaneutralität ist der Zustand, bei dem menschliche Aktivitäten im Ergebnis keine Nettoeffekte auf das Klimasystem haben."

Aber ist das nicht zu ambitioniert? Ziehen die Bürger überhaupt mit? Und kostet das nicht in wirtschaftlich schwierigen Zeiten viel zu viel Geld? Laut einem Ende 2021 gefassten Gemeinderatsbeschluss will Unterhaching zehn Jahre schneller sein als der Landkreis, der 2040 als Zielmarke gesetzt hat, und auch flotter als Neuried und Neubiberg, die sich bis 2035 Zeit geben. Nur Pullach ist gleichauf ins Rennen gegen den Klimawandel gestartet und will ebenfalls bis 2030 klimaneutral sein - und bis 2050 sogar völlig frei von Treibhausgasemissionen.

Die Energiewende ist ein Marathon und Unterhaching hat sich ein Sprinttempo verordnet, wohl wissend, dass das sehr sportlich ist. Man ist sich im Gemeinderat einig, dass die Zeit drängt. Deshalb stimmte das Gremium vor eineinhalb Jahren geschlossen für einen Antrag der CSU, aufs Tempo zu drücken. Dass sich die Gemeinde auf den richtigen Weg begeben habe, hat ihr erst kürzlich der Astrophysiker und Wissenschaftsjournalist Harald Lesch bei einer Veranstaltung anlässlich des 20-jährigen Bestehens der Unterhachinger Geothermie attestiert: "So geht Klimawende", sagte Lesch mit Blick auf die Erdwärme, die Unterhaching seit 20 Jahren anzapft. Vom "richtigen Wumms" sprach der prominente Gastredner. Er war aber auch als Mahner gekommen: "Man braucht kein Physikstudium, um zu verstehen, was passiert, wenn es immer wärmer wird. Viele haben den Schlag nicht gehört. Wir haben es verkackt, meine Generation hat es vermasselt", so der 62-Jährige. Seine Generation müsse jetzt wenigstens dafür sorgen, die Richtung zu ändern, damit die nächste Generation das Richtige tun könne.

Aber welche Optionen gibt es? Für Lesch spielen die Städte und Gemeinden eine große Rolle: "Die Kommunen sind ein kleiner geographischer Raum, in dem man zeigen kann, dass es geht." Die Kommunen seien "gesellschaftliche Laboratorien". "Wenn du wissen willst, wie Energiewende geht, dann geh nach Unterhaching oder nach Wildpoldsried." Der Erfolg sei hier viel unmittelbarer und die psychologische Wirkung viel schneller.

Unterhaching steht mit seiner Geothermie schon ganz gut da. Hinzu kommt die 2012 gegründete Bürgerenergie, eine Genossenschaft, die mittlerweile zwei eigene Freiflächen-Photovoltaikanlagen, 15 Dachanlagen und eine PV-Anlage auf einer Gewerbeimmobilie betreibt. Aber das reicht noch lange nicht. Der neue Klimaschutzmanager der Gemeinde, Philipp Dürr, machte in einem Sachstandbericht im Juni 2022 im Gemeinderat deutlich: Zwischen 2010 und 2016 wurde die Treibhausgas-Emission jährlich um ein Prozent reduziert, aktuell sei man bei knapp drei Prozent. Wolle man Klimaneutralität bis 2030 erreichen, müsse man die jährliche Reduktion verzehnfachen. Eine ernüchternde Diagnose.

Bei ihrer Definition von Klimaneutralität klammert die Gemeinde inzwischen den Verkehr aus. Denn die Gemeinde kennt das Reiseverhalten ihrer Bürger nicht und hat auch keinen Einfluss darauf, wer mit welchen Fahrzeugen etwa auf der Giesinger (A 995) oder der Salzburger Autobahn (A 8) unterwegs ist, die den Ort quasi im Westen und Osten einschließen.

Wie also kann man bei der CO₂-Reduktion und dem Ausbau erneuerbarer Energien zehnmal besser werden als bislang? Einfach mal schauen, wie andere das machen, dachte sich der Arbeitskreis Klima der Grünen und organisierte im Oktober einen Besuch in Pfaffenhofen, das in Sachen Klimaschutz als Vorzeigekommune gilt und mit einem Katalog von 39 umfassenden Maßnahmen bis 2035 klimaneutral werden will. Gabi Scheithauer, die Organisatorin der Infofahrt, hat einiges aus der Kreisstadt an der Ilm mitgenommen, was Unterhaching sich abschauen könnte. Es gibt dort einen kostenlosen Stadtbus, einen Online-Bürgermelder für Kritik und Anregungen und ein Jugendparlament, das den Klimanotstand ausgerufen hat.

Aus überschüssigem Wind- und Solarstrom könnte Wasserstoff erzeugt werden

"Die Bürger werden konsequent mitgenommen", ist Scheithauers Erfahrung. Es gibt Bürgerwerkstätten, eine Klimaschutzallianz, einen Tag des Klimaschutzes und einen Klimaschutzpreis. Auch ein Windrad betreiben die Pfaffenhofener. Gebaut wurde es "nach viel Kommunikation und konstruktiven Gesprächen" und einem Bürgerentscheid. "Hier erfuhren wir etwas über Power-to-gas: Mit überschüssigem Wind- und Solarstrom erzeugt Pfaffenhofen Wasserstoff, der anschließend mit CO₂ zu Methan umgewandelt wird. Das CO₂ und die Wärme der Kläranlage erzeugen biologisch mittels Algen Methan. Die Strom -und Gasnetze sind weitestgehend in Bürgerhand", berichtet Scheithauer.

Kann also Unterhaching von Pfaffenhofen lernen? Bürgerwerkstätten gibt es bereits. 80 Unterhachinger haben sich bislang beteiligt, 144 Vorschläge wurden in drei Treffen erarbeitet. Am Dienstag, 24. Januar, sollen bei einer vierten Veranstaltung Experten eines externen Büros hinzukommen, um gemeinsam ein finales Maßnahmenpaket zu schnüren. Dazu zählen auch so ungewöhnliche Ideen wie das kleine Logistikzentrum "Micro-Hub" sowie ehrenamtliche "Energiescouts", die energetische Fragen einfach und unkompliziert am Gartenzaun beantworten können.

Geothermie-Ausbau, Solarenergie, Windräder - all das wird im Gemeinderat längst diskutiert, manches beschlossen, anderes wieder verworfen. Für mehr Freiflächen-Photovoltaik fehlen die Flächen, jedenfalls fällt es - egal ob Bürgerenergie oder Gemeinde - schwer, Grundeigentümer davon zu überzeugen, Panele auf ihren Äckern aufzustellen und dort Gemüse unter den Modulen zu pflanzen oder Schafe grasen zu lassen statt Mais anzubauen. Der Landschaftspark Hachinger Tal ist tabu und bis sich das erste Windrad in Perlacher Forst dreht, wird es noch dauern.

Für die Geothermie allerdings gibt es inzwischen einen Masterplan, auch weil das Interesse, unabhängig von fossiler Energie zu werden, seit dem Krieg in der Ukraine massiv zugenommen hat. Im vergangenen Mai haben Bürgermeister Wolfgang Panzer (SPD) und der Geschäftsführer der gemeindeeigenen Geothermie-Gesellschaft (GTU), Wolfgang Geisinger, verkündet: Bis zum Jahr 2027 soll das mit Geothermie gespeiste Fernwärmenetz der Gemeinde komplett ausgebaut sein und jedem Interessierten ein Anschluss an die Tiefenwärme garantiert werden. 70 Millionen Euro soll das kosten - Geld, das die GTU über Kredite und Bundesfördermaßnahmen aufbringen will. Allerdings muss die Gemeinde bürgen.

Und die ist im Moment knapp bei Kasse. Weil sie zwölf Millionen Euro an Gewerbesteuereinnahmen an zwei Unternehmen zurückzahlen muss, hat Bürgermeister Panzer im Herbst eine Haushaltssperre erlassen. So stehen in den aktuellen Haushaltsberatungen sämtliche Fördermaßnahmen auf dem Prüfstand. Dass ein externes Büro die Maßnahmen aus den Bürgerwerkstätten bewertet, hat der Gemeinderat inzwischen genehmigt. Hieran will das Gremium nicht sparen, sondern den Prozess wie ursprünglich geplant fortführen. "Aus der Sicht der Verwaltung ist das unbedingt notwendig und intern nicht leistbar", hatte Rathaussprecher und Wirtschaftsförderer Simon Hötzl um Zustimmung geworben.

Ein Fragezeichen steht allerdings noch hinter dem Förderprogramm zur Energieeinsparung. Das gibt es seit 30 Jahren und ist im Grunde die älteste Klimaschutzmaßnahme der Gemeinde. 2020 wurde das Programm überarbeitet, seither ist die Zahl der Anträge stark gestiegen. 2022 wurden von mehr als 250 Antragstellern Förderzuschüsse für insgesamt 468 Maßnahmen mit einem Investitionsvolumen von zusammen fünf Millionen Euro beantragt. Die in Aussicht gestellten Zuschüsse belaufen sich auf 400 000 Euro. Nun fragt sich die Gemeinde, was mit Anträgen geschieht, die nach Erlassen der Haushaltssperre im Oktober gestellt wurden. Kann man es sich noch leisten, weitere 55 000 Euro an Fördermittel für 2022 zu bewilligen? Und ist genügend Geld da, um auch 2023 Bürgern bei solchen Maßnahmen finanziell unter die Arme zu greifen, um so dem Ziel Klimaneutralität 2030 ein Stückchen näher zu kommen? Mehr als in den Jahre zuvor, geht es darum, Prioritäten zu setzen.

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