Meine zweite Heimat:Vertraute Glockenklänge

Meine zweite Heimat: Mesnerin in Kirchheim: Johanna Gross.

Mesnerin in Kirchheim: Johanna Gross.

(Foto: Claus Schunk)

Als Siebenbürger Sächsin fühlte sich Johanna Gross in Rumänien oft diskriminiert. Kirchheim empfindet die Mesnerin als ihr Zuhause.

Von Anna-Maria Salmen, Kirchheim

Der Klang von Glocken ist für Johanna Gross ein Stück Heimat. "Ich habe schon immer in der Nähe von Kirchen gewohnt", sagt die 63-Jährige. Das war bereits in ihrem Herkunftsort Großscheuern so, ein Dorf nahe Hermannstadt in Siebenbürgen. Auch in Kirchheim begleitet das vertraute Geräusch sie Tag für Tag: Gross arbeitet dort seit der Einweihung der Cantate-Kirche im Jahr 1985 als Mesnerin und wohnt direkt nebenan.

Nach Deutschland kam sie vier Jahre zuvor. In ihrem Pass waren damals sowohl die deutsche Nationalität als auch die rumänische Staatsbürgerschaft eingetragen, erzählt sie. Denn als Siebenbürger Sächsin gehört Gross zu einer deutschen Volksgruppe, deren Vorfahren sich schon im 12. Jahrhundert im Gebiet des heutigen Rumänien niederließen. Für die deutsche Minderheit war die Situation dort während Gross' Jugend nicht leicht. "Freiheit hatten wir nie", erinnert sie sich. Die Ausreise war den Siebenbürger Sachsen verboten, vom rumänischen Staat seien sie häufig diskriminiert worden. Zwischen Rumänen und Deutschen herrschte eine klare Abgrenzung, Freundschaften entstanden zwischen ihnen nur selten. "Manchmal kam ich mir wie ein bunter Vogel vor, weil ich einfach anders war."

Mit "kleinem Piesacken" zeigten ihr manche immer wieder, dass sie nicht richtig dazugehöre, sagt Gross. In der Schule etwa riefen einige Lehrer sie als "Du, Deutsche" auf, statt ihren Namen zu verwenden. Ein anderes Mal, erzählt sie, wurde ihr als junger Frau verboten, einen Ring zu tragen. Die kleineren Sticheleien steigerten sich letztlich bis zu offenen Anfeindungen. "Manche Rumänen haben uns Siebenbürger Sachsen irgendwann gesagt: Geht weg, was sucht ihr hier?"

Für viele war diese Situation irgendwann nicht mehr auszuhalten: Von den 1970er-Jahren an gab es eine Welle an Auswanderungen. Durch das Ausreiseverbot mussten Umwege genutzt werden. Gross' Mutter ließ sich etwa einen Urlaub in Deutschland genehmigen. "Der Staat hat wohl gedacht, dass sie als Frau sowieso wieder zurück zu ihren Kindern käme." Das war jedoch nicht geplant. Bis dem Rest der Familie offiziell genehmigt wurde, nachzureisen, vergingen indes dreieinhalb Jahre. Trotz der deutschen Nationalität haben sich viele ausgewanderte Siebenbürger Sachsen schwer getan, in Deutschland Fuß zu fassen, sagt Gross. Denn die Gemeinschaft war in der alten, dörflich und traditionell geprägten Heimat stärker. Der enorme Zusammenhalt habe einigen hier gefehlt.

Auch Gross selbst brauchte eigenen Worten zufolge lange, wirklich anzukommen. Bei der ersten Rückkehr nach Rumänien kamen ihr die Tränen, als sie in ihrem Herkunftsort stand, erzählt sie. Die Arbeit als Mesnerin in der Cantate-Kirche sei schließlich eine große Hilfe gewesen: "Die Kirche kann immer eine Heimat bieten, egal in welcher Nation." Als Gross vor einiger Zeit erneut nach Siebenbürgen zurückkehrte, war die Traurigkeit verschwunden. "Ich liebe meine Wurzeln, aber ich bin in Kirchheim daheim."

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