SZ-Kulturpreis Tassilo:Mit der Kiste ins Rampenlicht

SZ-Kulturpreis Tassilo: René Vollmar(links) leitet die Rolli Gang, die vor Corona um die 60 Auftritte im Jahr hinlegte.

René Vollmar(links) leitet die Rolli Gang, die vor Corona um die 60 Auftritte im Jahr hinlegte.

(Foto: Sebastian Gabriel)

In der Rolli Gang singen junge Menschen mit Behinderung. Dabei können sie ihre Leidenschaft ausleben und ihr Handicap ausblenden.

Von Anna-Maria Salmen, Kirchheim

In dem kleinen Raum ist es noch kühl an diesem Montagabend. Einige der Musiker, die sich zur Probe hier treffen, behalten da lieber erst mal ihre dicken Jacken an. Mit Warmsingen halten sie sich trotzdem nicht allzu lange auf. Am Faschingsdienstag tritt die Gruppe auf einem Ball auf, sagt René Vollmar, der wie ein Dirigent vor den Sängern steht. Stimmungslieder stehen daher heute auf dem Probenplan. "Wie schaut's aus mit 10 Meter geh'?", fragt Vollmar. "Mach ma", kommt die selbstsichere Antwort. Mit voller Kraft startet Orazio Greco zunächst allein in die erste Strophe, zum Refrain steigen die restlichen Bandmitglieder ein. Dass alle sechs eine körperliche Beeinträchtigung haben, behindert sie beim Singen nicht. Im Gegenteil, während des kurzen, fröhlichen Lieds scheinen sie ihr Handicap für einen Moment zu vergessen.

Schon seit über 20 Jahren zeigt die Rolli Gang, welches Talent in Menschen mit Behinderung stecken kann. Ursprünglich ging die Truppe aus einem Schulchor an der Bayerischen Landesschule für Körperbehinderte in München hervor, erzählt Vollmar, der damals die Idee hatte, die jungen Sänger stärker zu fördern. Denn zunächst trat die kleine Gruppe nur schulintern auf, zum Beispiel zur Begrüßung wichtiger Gäste.

Schnell stellte der Religionslehrer jedoch fest, dass echtes Potenzial in den Musikern steckte. "Am Anfang waren schon noch einige schiefe Töne dabei", erinnert er sich und lacht. Durch regelmäßige Proben konnte das aber rasch behoben werden. Im Jahr 2001 wagte die Rolli Gang dann erstmals Auftritte außerhalb der Schule. Schon von Anfang an sind Benny Dannecker und Orazio Greco dabei, etwas später stießen Sarah Hadyk und Johannes Maier dazu. Die neuesten Mitglieder sind die beiden Sehbehinderten Marco Eller und Jörg Schiener, die zuvor in der Münchner Band Blinde Musiker sangen.

"Es ist ja oft so, dass Menschen mit Behinderung nicht wirklich am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können", sagt Vollmar. "Das hat mich schon immer gewurmt." Denn der Religionslehrer ist überzeugt davon, dass jeder Mensch - egal ob mit oder ohne Behinderung - mit seinen eigenen Leidenschaften und Talenten ausgestattet ist. Bei den Mitgliedern der Rolli Gang sei das eben die Musik. Vollmar will den jungen Leuten in der Band die Möglichkeit geben, ihre Stärken zu entfalten. "Alle reden immer von Inklusion, wir machen es einfach."

"Man muss nur Berührungsängste abbauen."

Ziel der Gruppe ist auch, eine echte Alternative zu anderen Bands zu bieten, sagt Werner Dasch. Der Kirchheimer Musikproduzent arbeitet seit 2007 mit der Rolli Gang und hatte damals eigener Aussage nach noch keinerlei Erfahrungen mit behinderten Menschen. Anfangs sei er durchaus ein wenig nervös gewesen, habe nicht recht gewusst, was ihn erwarte. "Aber ich habe schnell gemerkt, dass wir ganz normal zusammenarbeiten können. Man muss nur Berührungsängste abbauen." Das gelingt der Truppe bei Auftritten immer wieder, wie Dasch und Vollmar beobachten.

Und auch die jungen Musiker selbst genießen es, im Rampenlicht zu stehen. Orazio Greco etwa kann sich ein Leben ohne Musik eigenen Worten zufolge gar nicht vorstellen. Der Sänger übt auch privat gerne mithilfe von YouTube-Videos, bis Text und Töne perfekt sitzen, erzählt er. Für seinen Bandkollegen Benny Dannecker bietet die Rolli Gang auch eine oft willkommene Ablenkung. "Wenn ich Musik mache, sind das die Momente, in denen ich vergesse, dass ich in der Kiste sitze", sagt er und zeigt auf seinen Rollstuhl. "Bei Auftritten gibt es nur die Musik, die Leute und mich."

SZ-Kulturpreis Tassilo: Den Sängern ist der Spaß anzumerken - auch wenn ernsthaft geprobt wird.

Den Sängern ist der Spaß anzumerken - auch wenn ernsthaft geprobt wird.

(Foto: Sebastian Gabriel)

Durch ihre Leidenschaft sind die Sänger schon weit herumgekommen. Das schönste Erlebnis in ihrer Zeit bei der Rolli Gang, da sind sie sich einig, war die Reise nach Amerika. Eine Woche lang traten sie im Jahr 2009 täglich an einem anderen Ort auf, unter anderem in New York und Washington. Abgesehen von solchen Highlights war das Bandleben vor der Pandemie ebenfalls voller Auftritte, etwa 60 Mal pro Jahr spielte die Rolli Gang damals nach Schätzung von Dasch zum Beispiel auf Geburtstagsfeiern oder bei Gottesdiensten.

Gerade waren die Musiker im vergangenen Jahr wieder dabei, an die damaligen Erfolge anzuknüpfen, als Leadsänger Alexander Eberle plötzlich und unerwartet verstarb. "Das war ein Riesen-Schlag", sagt Dasch, die Betroffenheit ist ihm auch Monate danach noch anzumerken. Schritt für Schritt erholte sich die Truppe von dem Verlust, "so langsam sind wir wieder dabei, Fuß zu fassen".

Einiges steht für die Rolli Gang an, zum Beispiel Auftritte auf dem Flower Power Festival im Sommer oder auf der Kirchheimer Landesgartenschau 2024. Doch jetzt konzentrieren sich die Musiker erst einmal auf den Ball am Faschingsdienstag. Ein weiteres Stimmungslied muss geübt werden. A capella stimmt die Truppe das Intro von "Fürstenfeld" an. Ganz zufrieden ist Musikproduzent Dasch nach der Performance noch nicht: "Das muss noch ein bisschen munterer sein." Also ein weiteres Mal, es klingt schon deutlich wacher. Doch ein Quäntchen fehlt noch immer. "Ihr dürft ruhig auch noch gscherter sein bei diesem Stück", ermuntert Vollmar die Sänger. Und die Aufforderung wirkt: Ein drittes Mal ertönt der Anfangschorus, nun mit voller Kraft. "Genau so wollte ich es hören", ruft Dasch schon während der ersten Strophe. Der Faschingsball kann also kommen.

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